Dresden ist immer eine Reise wert, und immer scheint die Zeit zu knapp, um all die Kunstschätze, die das Elbflorenz für kunstinteressierte Besucher in seiner malerischen Kulisse bereithält, zu entdecken. Nun ist mit dem ADA, dem Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, noch eine weitere Attraktion auf der Dresden-Must-See-List hinzugekommen.
„Alle Kunst war einmal zeitgenössisch“, sagte einmal der italienische Konzept- und Lichtkünstler Maurizio Nannucci. Oft erst in der Rückschau werden avantgardistische Strömungen und deren Radikalität erkannt und wertgeschätzt, umso wichtiger ist es deshalb, das Umfeld, in denen sie entstanden, zu dokumentieren und zu archivieren.
Das ADA das am 5. Mai, als jüngstes Kind der staatlichen Kunstsammlungen Dresden eröffnet wurde, widmet sich den unterschiedlichsten künstlerischen Strömungen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts und beherbergt etwa 1,5 Millionen Objekte (Dokumente, Zeitschriften, Fotografien, Filme, Bücher, usw.), die von dem deutsch-italienischen Galeristen, Sammler und Verleger Egidio Marzona zusammengetragen und 2016 den Kunstsammlungen geschenkt wurden. Nur ein geringer Prozentsatz der Sammlung sind Kunstwerke (Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen) im klassischen Sinn.
In der barocken Hülle des Blockhauses, der ehemaligen Neustädter Wache am Brückenkopf der Augustusbrücke, gleich hinter dem goldglänzenden Reiterstandbild Augusts des Starken, hat die Sammlung nun dauerhaft ihren Platz gefunden. Was sich von außen so hübsch in die rekonstruierte Stadtsilhouette einfügt, entpuppt sich im Inneren als überraschend avantgardistisches Raumgefüge. Da das Blockhaus nach dem verheerenden Bombenangriff im Februar 1945 vollständig ausbrannte, wurde in der Folgezeit nur die Außenhaut unter Denkmalschutz gestellt. Freie Fahrt also für den Gewinner des Architekturwettbewerbs, das spanische Architekturbüro Nieto Sobejano, das die Sammlung in sechsjähriger Bauzeit in einen scheinbar freischwebenden Kubus steckte, quasi in einen Block im Block(-haus). Die wuchtige Stahl-Beton-Konstruktion ist an zwei gegenüberliegenden Aufzugsschächten sowie am Treppenhaus befestigt. Insgesamt 19 000 Quadratmeter Fläche stehen dem ADA zur Verfügung, 37 Prozent davon sind dem Archiv vorbehalten, 39 Prozent werden als Aktionsfläche genutzt und 24 Prozent nehmen Büros, Foyer und Lagerfläche ein.
Den architektonischen Akzent im Ausstellungsraum im Erdgeschoss bildet die freitragende Wendeltreppe, die wie eine Raumskulptur den Blick des Besuchers auf sich zieht. Die gewundene Treppe ist aber noch mehr als nur ein funktionales Element. Sie ist integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts und symbolisiert den Aufstieg und die Entwicklung der avantgardistischen Kunst. Jeder Schritt auf dieser Treppe eröffnet neue Perspektiven auf die Ausstellung und das Gebäude selbst.
Mit der umfangreichen Sammlung des ADA und dessen aufsehenerregenden architektonischen Statement ist Dresden nun also um ein weiteres kulturelles Highlight reicher. Vergleichbare kunstarchivalische Sammlungen dieses Formats finden sich nur im Getty Institute in Los Angeles oder im MOMA in New York.
Die erste Ausstellung im ADA widmet sich unter dem Titel „Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“ noch bis zum 1. September den Surrealisten, die das Archivieren selbst als künstlerische Geste verstanden und z.B. im eigens dafür eingerichteten „Bureau de Recherches Surréalistes“ („Büro für Surrealistische Forschung“), gegründet von André Breton, Träume sammelten, archivierten und untersuchten. Anhand von rund 300 Objekten aus der Zeit des Surrealismus werden in der aktuellen Schau verschiedene avantgardistische Praktiken, die die Grenzen zwischen Realität und Traum, passivem Archiv und aktivem Kunstschaffen verwischen, präsentiert.
In Wechselausstellungen sollen zukünftig noch weitere Teile der Sammlung der Öffentlichkeit gezeigt werden. Das ADA möchte aber nicht nur ein Archiv oder Museum im eigentlichen Sinne sein, es versteht sich gleichzeitig als lebendiger Raum zum Diskutieren, Verweilen und Forschen. Interessierte und Wissenschaftler sind eingeladen, auf der öffentlich nutzbaren Forschungsplattform im Obergeschoss mit dem Archivmaterial und der Bibliothek zu arbeiten. Zusätzlich finden, im Kontext der Sammlung und parallel zu den Ausstellungen, auch Vortrags- und Vermittlungsprogramme statt.
Aber Achtung, wer jetzt gleich seinen Besuch in Dresden plant, sollte die Öffnungszeiten, die im ADA etwas ungewöhnlich sind, beachten: dienstags bis freitags von 15 bis 21 Uhr, samstags und sonntags von 11 bis 19 Uhr. Ein Besuch zu Forschungszwecken ist, nach vorheriger Anmeldung, dienstags bis freitags von 9 bis 15 Uhr möglich. Weitere Informationen über: https://archiv-der-avantgarden.skd.museum/
Mit dem Thema des Archivierens beschäftigt sich aktuell auch (und noch bis zum 6. Oktober) das Berliner Künstlerduo Böhler und Orendt in der interaktiven Ausstellung „Memory Movers“ im Neuen Museum Nürnberg. Mit einer raumgreifenden Installation mit über hundert Archivalien aus mehr als 50 Archiven stellen sie sich die Frage, wozu wir eigentlich all die Dokumente sammeln und was diese für uns heute noch bedeuten.