Literaturmenschen kennen auch in virusgesättigten Zeiten keine Langeweile, doch um Corona als Alibi nehmen, um einmal aus der eigenen Blase heraus und in eine Gegenwelt zu treten, die einem bislang eher fremd war, darauf muss man erst einmal kommen. Fernsehabende von jener gnadenlosen Länge, die von den Statistikern als Durchschnittskonsum beziffert wird, könnten dazu taugen - es muss ja nicht gleich RTL & Co. sein. Auch die unter der charmanten Bezeichnung „öffentlich-rechtlich“ rubrizierten Sender bieten allabendliche Krimi-Endlosschleifen inklusive der aufgrund der opulenten TV-Finanzierung völlig überflüssigen Werbespots.
Gerhard Stadelmaier, als langjähriger Theaterkritiker der FAZ fast schon eine journalistische Legende, hat die Covid-Auszeit genutzt, um sich der Marter langer Fernsehabende auszusetzen und seine diesbezüglichen Eindrücke bzw. Erkenntnisse mitzuteilen. „Deutschlandglotzen“ ist sein Buch überschrieben, der Untertitel kündigt „Ganze Tage vor dem Fernseher“ an. Was für die Einen alltägliche Routine ist, kann einem Bühnenmenschen zur Fron werden. Aber nur Letzterer entdeckt die Parallelen zwischen Shakespeares Bühnenhelden und dem Personal des „größten deutschen Staatstheaters“.
Wie nebenbei flicht der Autor daher allerlei Episoden aus dem Schauspielrepertoire ein, um die dramaturgischen Techniken und Tricks der TV-Formate zu entlarven. Die metastasierenden Talkshows haben es ihm besonders angetan, jene „Stuhlkreislagerfeuer“, in denen gegenseitige Bestätigungen des jeweils Vorgefassten abgesondert werden, also das verkündet wird, was eh’ schon alle wissen. Gerhard Stadelmaier kommentiert das mit Scharfsinn - inklusive einer gehörigen Portion Humor - und brilliert auch stilistisch als jener Wortfindungsakrobat, als den man ihn jahrzehntelang in der Rolle des Kolumnisten kannte.
Seine Affinität zum Krimigenre kommt der bayerischen Leserschaft besonders zugute, denn die pfiffigen Analysen solcher Reihen mit Kultstatus wie „Rosenheim Cops“ (Motto: „Es gabat a Leich“) oder „Hubert und Staller“ sind ein wahres Lesevergnügen. Und man merkt dann doch, dass ihm die Deutschlandglotzerei nicht nur zur Qual gereichte, sondern irgendwie auch Spaß gemacht hat. Fazit: es ist keine Sünde, angesichts geschlossener Kulturtempel und analogen Notstands mal den Kosmos der öffentlich-rechtlichen Unterhaltung zu ergründen. Es müssen ja nicht „ganze Tage“ sein…
Gerhard Stadelmaier, Deutschlandglotzen, „zu Klampen Verlag“, 200 Seiten, ISBN 978-3866746343, 20,- €