Titelthema

Hauptsache Kultur!

Von Kulturhauptstädten und anderen Metamorphosen

veröffentlicht am 26.01.2016 | Lesezeit: ca. 13 Min.

Zum Jahreswechsel fielen gleich vier europäische Kulturhauptstädte besonders auf. Die einen feiern den Abschluss ihrer ereignisreichen Kulturjahre, die anderen den Auftakt. Pilsen (Tschechien) und Mons (Belgien), die Kulturhauptstädte Europas 2015, gaben den Stab der europäischen Kulturstaffel an Breslau (Polen) und San Sebastián (Spanien) ab. Der einen Rückblick ist der anderen Ausblick. Der einen Erfahrung der anderen Rat. Der einen Ende der anderen Anfang.

Andere Länder, andere Sitten - das lehrt uns das gegenwärtige Europa bei vielen Themen. Und das gilt auch für Kulturhauptstädte. Keine ist wie die andere. Und doch haben sie viel gemeinsam: Das Event, das sich über ein Kalenderjahr erstreckt, das Fokussieren auf Kultur in Stadt und Region, die gehobene Aufmerksamkeit von innen wie von außen, das Siegel der Besonderheit auf zahlreichen Ebenen und politischen Plattformen und der Stolz, mit dem Städte diese Auszeichnung begehen. Es werden der europäischen Öffentlichkeit besondere kulturelle Aspekte der Stadt, der Region und des betreffenden Landes zugänglich gemacht. Das erfüllt den Auftrag, der 1985 aus der „Kulturstadt Europas“-Idee der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri geboren wurde. Doch Kulturhauptstädte heute leisten wesentlich mehr. Das Profil der Stadt und Region zu präsentieren, ist das eine. Anamnese und Entwicklung derselben das andere. Ihre historische, soziologische und geographische Verortung. Ihr Zustand in der Gegenwart, ihr Potenzial für die nächsten Jahrhunderte. Alles spielt in die Konzeption und Durchführung heutiger Kulturhauptstädte hinein. Ausgewählte Themen, die zum üblicherweise innovativ, dynamisch und modern gehaltenen „Branding“ der Kulturhauptstädte beitragen, lassen Tendenzen erahnen, erfassen aber nur zum Teil, was auserwählte europäische Städte im Umgang mit dem Faktor Kultur ausmacht. Es geht um Stadtregeneration und Stadtentwicklung, um Vitaminspritzen für die (kulturelle) Infrastruktur, um knallharte Strukturpolitik. Es geht um neue Impulse für eine Stadt. Um das Einleiten von Veränderungsprozessen. Um nachhaltige Wirkung. Und damit um weit mehr, als die üblichen Kulturhauptstadt-Bilanzen erahnen lassen, die neben der Listung baulicher Maßnahmen vor allem die Zahlen der Veranstaltungen und des Tourismus sowie den internationalen Medienerfolg ins Felde führen. Es geht in letzter Instanz um nichts Geringeres als die Identität einer Stadt und/oder Region und um das Transformationspotential und die Motorfunktion eines Kulturhauptstadtjahres im Sinne eines Konservierens und Erneuerns dessen, was dieselbe ausmacht und von anderen Städten unterscheidet. Es geht um die Analyse und Katharsis des Nährbodens einer Metropole für ihren berühmten Pool der Möglichkeiten und damit um ihr konkurrenzfähiges Zukunftsprofil.

Gerade das macht Kulturhauptstädte zu Einzelfällen und betont ihre jeweiligen Besonderheiten, es macht sie zu einmaligen Chancen und bietet neben den messbaren Erfolgen viel Gewinn jenseits von Zahlentabellen und Sprache, aber auch gute Chancen, an all dem Anspruch grandios zu scheitern.

„Pilsen, open up!“

Pilsen, mit knapp 170.000 Einwohnern viertgrößte Stadt Tschechiens, Bier-, Industrie- und endlich auch offiziell Kulturstadt in Westböhmen, beging das besondere Jahr unter dem Slogan „Pilsen, open up!“. Mit Akrobatikshow und Großprojektionen auf Fassaden alter Bürgerhäuser öffnete die gemeinnützige Plzen 2015 GmbH das Programm, das insgesamt auf 50 Shows und 600 Veranstaltungen anwachsen sollte. Neben Großveranstaltungen und Formaten durch alle Sparten, wurden in den vier Programmlinien „Kunst und Technologie“, „Beziehungen und Gefühle“, „Geschichten und Quellen“ und „Transit und Minderheiten“ thematische Brücken gebaut. Von 20 Millionen Euro Gesamtbudget wird gesprochen. Aus dem Vollen konnte Petr Forman, der künstlerische Leiter des Kulturhauptstadt-Projekts, nicht schöpfen. Und auf dem Weg ins Aktionsjahr 2015 ist ihm auch noch eines der zwei Kulturraum-Vorzeigeprojekte abhandengekommen. Der Umbau eines alten Brauereigebäudes zur Kulturfabrik Svetovar verzögert sich zunächst, um später komplett von der Agenda gestrichen zu werden. Immerhin das 34 Millionen Euro teure Neue Theater war pünktlich fertig und startete mit der neuen Saison im neuen Haus ins Kulturhauptstadtjahr. Und mit dem DEPO2015 konnte für Teile der Kulturfabrik-Programmatik Ausgleich geschaffen werden. Auch entstand in den ehemaligen Werkstatthallen der Pilsener Verkehrsbetriebe Raum für die Kreativwirtschaft: offene Werkstatt, Workshops für Schulen, ein Inkubator, der Starthilfe für kreative Startups leistet, und ein Café. Die Errichtung eines Gebäudes für die Ladislav-Sutnar-Fakultät für Design und Kunst und die Renovierung der Freilichtbühne stehen gleichermaßen auf der baulichen Erfolgscharta. Nicht zuletzt lag ein Augenmerk auf diversen Neugestaltungen öffentlicher Räume und symbolisierte den Fokus auf das Integrieren neuen Publikums in neue Kulturräume und -aktivitäten der Stadt. Der Wandel von grauer Industriestadt zu bunter Kulturmetropole wird damit unterstrichen. In zwei Ausstellungshöhepunkten präsentierte Pilsen zwei Söhne seiner selbst: die Maori-Porträts von Gottfried Lindauer (1839-1926) bildeten einen Höhepunkt im Veranstaltungsreigen der Kulturhauptstadt Pilsen 2015. Und auch dem ebenfalls in Pilsen geborenen Animationskünstler Jiri Trnka (1912-1969) wurde eine Ausstellung gewidmet. Musikalisch gefeiert wurde ein anderer ehemaliger Bewohner der Stadt: Bedrich Smetana. Regelmäßig Zirkus und 50 Großveranstaltungen ziehen den roten Faden durch das Kulturstadtprogramm. Der Bierstadt-Ruf darf dennoch bestehen. Und das tut er mit Leichtigkeit. Doch die Kulturhauptstadt-Euphorie, so die Initiatoren, brachte Änderungen. Mehr Ressourcen schufen mehr Möglichkeiten und damit mehr Engagement. Pilsen habe die Schüchternheit abgelegt, sei aufgeweckter geworden. Pilsen habe sich geöffnet! Rewind! Weiter geht es, von vorne! (plzen2015.cz)

Mons 2015 - En 2015, je suis Montois et toi?
(2015 schlägt mein Herz für Mons, und Deins?)


Auch die Hauptstadt der wallonischen Provinz Hennegau, die Tuchmacherstadt Bergen mit ihren knapp 100.000 Einwohnern, begann mit furiosem Straßengetingel. In glitzernde Ponchos gehüllte Akteure eröffneten das Jubeljahr und erinnerten damit an den einstigen Reichtum durch die umliegenden Steinkohlemienen. Das war einmal. Seit dem Ende des Steinkohleabbaus lag die belgische Stadt im Dornröschenschlaf und suchte sich mit einem Kulturhauptstadt-Knall davon zu befreien. Museumsbau statt Bergbau, so die Devise. Fünf Museen wurden neu eröffnet. Darunter die Artothèque für regionale Kunst und Kulturgeschichte, das Feuersteinmuseum in Spiennes, das Kunstmuseum BAM - Museum der Schönen Künste Mons sowie das Musée du Doudou. Es ist St. Georgs Drachenkampf zu Ehren der Schutzheiligen Waltrudis gewidmet. Und natürlich musste der bekannteste Kulturschatz der Stadt auf Hochglanz getrimmt werden. Der Belfried von Mons, der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende 87 Meter hohe Leuchtturm, ist das traditionelle, identitätsstiftende Wahrzeichen der Stadt. 2015 kam viel Neues hinzu. Auch ein Kongresszentrum von Stararchitekt Daniel Libeskind. Über 10.000 m² neuer Ausstellungs- und Publikumsraum ist in Mons entstanden. 15 Urban Art Installationen und insgesamt 45 Ausstellungen standen auf dem Programm. Insgesamt 300 Veranstaltungen hat Intendant Ives Vasseur mit der Stiftung Mons 2015 ausgerichtet. Ein Höhepunkt war die van Gogh-Ausstellung „Van Gogh au Borinage. La naissance d‘un artiste“ (Van Gogh in Borinage. Die Geburt eines Künstlers). Der niederländische Maler (1853-1890) hat zwischen 1878 und 1880 als Hilfsprediger in dem Bergarbeiterdorf Borinage in der Nähe von Mons gearbeitet, bevor er dort mit dem Malen begann. Mit der Kunst beginnen, so der Kern der Verwandlung, ist diesmal an die Stadt und ihre Bewohner selbst adressiert und an ihre Besucher. Daran werden sich die Verantwortlichen von Mons 2015 noch messen lassen müssen. (mons2015.eu)

Wroclaw 2016 - Europejska Stolica Kultury - Raum für Schönheit

Breslau, die niederschlesische Metropole mit über 600.000 Einwohnern, davon knapp 200.000 Studenten, liegt auf 12 Inseln an der Oder, die mit weit über 100 Brücken verbunden werden. Als Kulturhauptstadt Europas 2016 gibt sie den Geschichtenerzähler, der einer schwierigen Stadtgeschichte neue Episoden mit gutem Selbstvertrauen und viel Weltoffenheit hineinschreiben will. Mit ihrer 1000-jährigen multikulturellen Geschichte ist sie prädestiniertes Bindeglied Europas und nunmehr Zünglein an der Waage des polnischen Polit-Alltags. „Wir wollen der Welt von unserer Vergangenheit und Gegenwart erzählen. Davon, wie aus Ruinen und menschlichen Tragödien neues Leben erwachsen kann. Wir werden unsere Geschichte über das ganze Jahr 2016 nach außen tragen, ohne Komplexe, dafür im Bewusstsein des eigenen Selbstwertgefühls.“ (Biuro Festiwalowe IMPART 2016)

Programmatisch gewappnet ist man mit acht Kuratoren, die über acht Genre und Subgenre hinweg daran arbeiten, die kulturellen Kreise und Beziehungen von Lokal- bis Globalkolorit zu spinnen. Dazwischen kleine Inseln - soziale Projekte, instit. Projekte, Bildungsprojekte, Projekte für Fragen der Synergie und Synästhesie. Die Kernbotschaft: Das Programm des Kulturjahres ist eine offene Einladung für alle Interessierten! Die Projektvorhaben laufen unter kreativen Querschnittstiteln wie „Kultur an die große Glocke hängen“, „Künstler und Werk“, „Europäische Bühne und Weltbühne“, „Vielfalt“, „Metamorphose der Kultur“ und „Raum für Schönheit“, wobei jede Aktion mehrfach wirken kann. Architektur fällt mit eigenem Kurator endlich wieder zurück in den Reigen der Schönen Künste und wird in Breslau 2016 exponiert thematisiert. Nicht nur, aber auch mit baulichen Meilensteinen, wie dem monumentalen Neubau für das Nationale Musikforum auf dem südlichen Schlossgelände, das einen großen Konzertsaal mit variabler Akustik sowie vier weitere kleine Säle beherbergt, die nun neue Heimat für Klassik, aber auch Jazz und Pop in Polen werden. Alles in allem klingt das nach Pole Position, nach einem wohl definierten Auftrag und sorgfältiger Programm-Arbeit mit einem ganzen Spezialistenteam. Und an Kooperationen mit dem spanischen Kulturhauptstadtpartner ist auch mehrfach und ausgiebig gedacht. Unter den 400 Projekten und 1.000 Veranstaltungen dürfte die „Spanische Nacht mit Carmen - Zarzuela Show“, bei der ein Ensemble aus über 500 Künstlern auftreten wird, eines der herausragenden Ereignisse sein. Und dabei bilden solche Spitzen lediglich einige Auffälligkeiten im breiten und gut sortierten Angebot, bei dem qualitativer Anspruch Programm ist, wie Literatur-Kurator Roman Gutek betont: „Ich weiß, dass meine Auswahl die Ausprägung von Geschmäckern beeinflusst, Inspiration für andere ist. Ich weiß auch, dass das verpflichtet.“ (Roman Gutek). Mehr Vertrauensvorschuss kann sich ein Team zu Beginn seines ambitionierten Großprojektes eigentlich nicht schaffen. (wroclaw2016.pl/)

San Sebastián 2016 - Kultur für das Zusammenleben

San Sebastián, baskisch Donostia, liegt im äußersten Norden der iberischen Halbinsel und ist neben Breslau zur zweiten Kulturhauptstadt Europas 2016 benannt worden. Die 190.000-Einwohner-Stadt hat sich gegen zahlreiche spanische Mitbewerber durchgesetzt. Das Ziel ist es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen und ein neues Modell des Zusammenlebens zu ermöglichen. „Mitwirken“ schreiben die Basken in diesem Zusammenhang groß, wie das 104-seitige Programm deutlich beweist. Mehr als 100 Projekte wurden gemeinsam von 500 Kulturmanagern und Künstlern erarbeitet. Zwölf Monate lang haben Bürger und Besucher die Gelegenheit, 458 Aktivitäten in den Bereichen Kunst und Kultur zu genießen. 48.772.012 € Budget stehen dem Generaldirektor Pablo Berástegui seit 2012 und bis Ende 2018 zur Verfügung. Durch alle Felder hindurch erstreckt sich das Angebot. Musik, Tanz, Theater, Kunst, Ausstellungen, Vorträge, Literatur, Technologie, Filme, Gastronomie, Architektur, Gesundheit, Sport, Urbanisierung, Wissenschaft. Thematisiert werden Überschriften wie Menschenrechte, Zusammenleben, Solidarität, Identität, Vielfalt, Wohlbefinden, Feminismus, Nachlass, Interkulturalität, Respekt, Gleichheit, Friede und viele andere mehr. Xabier Paya, der Direktor des kulturellen Programms, will für den Alten Kontinent neue Herausforderungen darstellen. Berástegui fügt hinzu: „Wir werden die der Kunst und Kultur eigenen Werte als Werkzeug nutzen, damit wir lernen zusammenzuleben.“ Auf das Klotzen wird verzichtet. Kein einziges Gebäude wurde errichtet oder wird umgestaltet, kein Leuchtturmprojekt soll die Gelder über Gebühren verschlingen. Vielmehr gehe es um einen kulturellen Sprühregen, der das zentrale Thema auf vielfältige Weise zum Gegenstand des Vorhabens macht, die „Kultur für das Zusammenleben“. Donostia-San Sebastián möchte zu einem Referenzpunkt für kreative und kulturelle Prozesse werden. Der Weg dahin: ehrgeizig, aber bescheiden, mutig, aber realistisch und mindestens extrem charmant. (dss2016.eu)

Copyright Fotos:

Nové divadlo, Foto © Plzen 2015

Nové divadlo, Foto © Plzen 2015

Le Mange Carré Sénart, Foto © Plzen 2015

Mesto Plzen - Hurvínek, Foto © Plzen 2015

Plzen - námestí Republiky, Foto © Plzen 2015

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