Lese- & Hörstoff
Hungarian Noir
A Tribute To The Gloomy Sunday (Piranha/Indigo)
veröffentlicht am 23.03.2016 | Lesezeit: ca. 5 Min.
Was Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ in der Literatur verkörpert, wird „Szomorú Vasárnap“ (Das Lied vom traurigen Sonntag, 1933) von Serres Rezsö in der Musik nachgesagt. Beide, so die Legende, lösten unvergleichliche Selbstmordwellen aus. Das Suizid-Motiv hier wie da: eine unerfüllte Liebe. Werther nahm sich das Leben. Serres Rezsö auch. Umso lebendiger ist die Geschichte der Komposition des Ungarn. Sie inspirierte nicht nur zum Schreiben eines Romans und zu seiner wunderbaren deutsch-ungarischen Verfilmung. Immer wieder interpretierten renommierte Künstler das traurige Stück auf besondere Weise. Paul Robeson präsentierte 1935 die erste englische Version. Billie Holiday sang es 1941. Ray Charles, Serge Gainsbourgh, Karel Gott und Heather Nova nahmen sich der Ausnahmekomposition an. Artie Shaw & His Orchestra, Branford Marsalis, Freddy Quinn, das Kronos Quartett und viele mehr. Bereits der Filmsoundtrack aus 1999 bündelte unterschiedliche Varianten auf einem Tonträger. Nun nimmt sich Piranha Records des Themas an und schickt die Weltmusikszene darauf los. Das „Lied der Selbstmörder“ in zehn unterschiedlichen Variationen mit Höhen und Tiefen ist das Ergebnis, bei frei bis sehr frei gestalteten Coverversionen, die facettenreich neue Qualitäten hervorholen oder entwickeln, bisweilen aber auch Enttäuschungen produzieren. Die zwei Zymbal-Meister Kálmán Balogh und Miklós Lukács versetzen den traurigen Sonntag souverän in eine virtuose, sphärische Klangwelt zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik. Mit ihren pannonischen Hackbrettern erhalten sie das schwere Wesen der Komposition trotz musikalisch beeindruckender Leichtigkeit. Ebenso überzeugend bettet das kolumbianische Ensemble Bambarabanda das mit Akkordeon, Geige und der wunderbaren Stimme von Sängerin Magda Ponce zelebrierte Leitmotiv in eine Mixtur heimisch inspirierter Stilistiken wie Cumbia, Mulatto, Mestizo oder Creole und verleiht ihm das Flair der Anden in einer abwechslungsreichen Crossover-Version, die final in einen folkloristischen Hip-Hop-Chorgesang mündet. Die kubanisch anmutende jazzy Pop-Version auf dem Album kommt vom kubanischen Jazz-Nachwuchstalent Glenda López und darf als „jüngster“ Klang der Zusammenstellung bezeichnet werden, der sich solide jazzig zwischen Son und Pop bewegt. Ein Höhepunkt des Silberlings kommt vom A-Capella und Doo-Wop-Ensemble Vocal Sampling aus Kuba, dessen Aufnahme einen melancholisch-nachdenklichen Gegenpart zu Bobby Mc Ferrins „Don`t worry, be happy“ darstellt und dem großen Vokal-Meister technisch dabei in nichts nachsteht. Brasilianischer Bluegrass, Psychedelic und viel Blues bringen Matuto ins Stück und liefern eine Version zwischen den bunten Zeiten der Beatles und sonstigem Hippie-Kult und damit eine sehr originelle Ausprägung des „Lieds von Leben und Tod“. Eine tiefgreifende, fein arrangierte Version und damit einen weiteren Höhepunkt trägt Chango Spasiuk bei. Zusammen mit seinem akustischen Ensemble setzt der Akkordeonist mit ukrainischen Wurzeln den Gloomy Sunday in ein großartiges Frage- und Antwortspiel von Akkordeon und Gitarre und produziert einen instrumentalen Dialog besonderer Güte. Das musikalische Gespräch kreist improvisatorisch um das Thema und gibt ihm dadurch ein ganz neues Gesicht mit starken Tönen, bevor es schließich mit melancholischem Geigensolo wieder zu seinem konventionellen Ausdruck zurückgeführt wird. Eingängig dann die Orchestervariante von Manolito Simonet y su Trabuco, dem kubanischen Spitzenorchester, das mit erstklassigen instrumentalen Tönen eine etwas weichgespülte instrumentale Latin-Tanzflächenvariante hinzufügt, wie sie bei jedem Tanzturnier bravourös bestehen könnte. Eigensinnig fällt „Czarna Niedziela“ aus, die polnische Variation von Kayah, die sich poppig zwischen Mittelalter, Avantgarde, Dance und Balkan bewegt und sich mit künstlicher Dramatik vom eigentlichen Wesen des Liedes weit entfernt. Die Rap-Version von GOG feat. Pianola geht noch einen Schritt weiter und interpretiert radikal neu und frisch, vor allem textlich, dafür musikalisch nur bedingt überzeugend, im brasilianischen Gangsta-Rap-Style mit Geigenuntermalung und übersetzt die Inhalte in jugendliche Welten. Neben den neuen Arrangements bietet der Tonträger zwei Gloomy Sunday-Bonustracks, die längst legendär sind und auf der CD außer Konkurrenz stehen: Billie Holidays Einspielung mit Teddy Wilson und seinem Orchester und die Version von Pál Kalmár, eine klassische Vertonung des Liedes. So antiquiert die beiden heute klingen mögen, sind doch beide Zeugnisse tiefgründiger Schönheit, die der Komposition in allen Punkten gerecht wurden und werden. Alleine dafür lohnt sich die vielseitige Weltmusik-Compilation rund um den traurigen Sonntag, wenngleich sie viele Perlen der Neuinterpretation vermissen lässt, wie die fantastischen Interpretationen von Portishead, Björk, Sarah Brightman oder jüngst auch Matt Forbes. Nicht zu vergessen die unerreichte Aufnahme mit Mimi Thoma und Orchester, 1939 aufgenommen von der Deutschen Grammophon. Das wäre mindestens einen weiteren Sampler wert.