Belcanto im Thüringer Wald
Das Staatstheater Meiningen
veröffentlicht am 20.09.2013 | Lesezeit: ca. 5 Min.
Es gibt diese berühmte Anekdote über den Dirigenten Arturo Toscanini, der sich Wagner „Tristan und Isolde“ ansieht und nach etwa einer Stunde zu seinem Sitznachbarn sagt: „Wäre das eine italienische Oper, hätten sie sich schon längst geliebt, getrennt, wieder geliebt und Kinder bekommen. Aber die diskutieren immer noch. “ Damit brachte er das Verhältnis zwischen deutscher und italienischer Oper eindeutig auf den Punkt.
Heute zitiert ihn sein Berufskollege Leo McFall, der Anfang Juli seine Stelle als 1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor am südthüringischen Staatstheater Meiningen angetreten hat. Er dirigierte zum Ende der letzten und nun auch in der neuen Spielzeit Vincenzo Bellinis Oper „I Puritani“, eine wahrlich äußerst italienische Oper. Obwohl die Handlung im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts angesiedelt ist, ist das Libretto „molto italiano“, die dramatischen Situationen wechseln in schneller Folge. Diskutiert wird hier kaum, es wird geliebt und gelitten. Der Zwist zwischen den puritanischen Gefolgsleuten Oliver Cromwells und den königstreuen Royalisten (ein Zwist, den König Charles I. mit seinem Kopf bezahlt hat), ein junges Mädchen, das einem Puritaner versprochen ist, aber einen Royalisten liebt und ihr Abdriften in Wahnsinn, als sie ihren Liebsten untreu glaubt – ein Plot, der für Diskussionen kaum Zeit lässt und - auch das ist sehr italienisch – tatsächlich ein gutes Ende für die Liebenden hat. Ein Ende, von dem Tristan und Isolde nur träumen konnten.
Auch musikalisch wird es nie langweilig, denn Elviras Wahnsinn äußert sich in halsbrecherischen Koloraturen, die die Sopranistin Elif Aytekin mühelos meistert und trotz der körperlichen Höchstleistung auch überzeugend spielt. Trotz ihrer fröhlichen Sommerkleider, die Lichtpunkte in das in grau gehaltene Bühnenbild setzen, ist ihr geistiger Verfall – und auch das Erwachen daraus – ergreifend. Ebenso die anderen Solisten, die Meiniger Staatskapelle und der hervorragend eingestellte Chor - die Dramatik des Sujets spiegelt sich in der perfekten Beherrschung der Töne und der gemeinsamen Hingabe aller Beteiligten an die Musik. „Bei Bellini steht die Freude an der melodischen Linie im Vordergrund, hat viel mehr Gewicht als die rhythmischen und harmonischen Vorgänge“, sagt Dirigent McFall und führt sein Ensemble mit sicherer Hand durch die musikalischen Stromschnellen.
Oper ist die Grundlage des Meiniger Theaters, das 1831 als herzogliches Hoftheater Sachsen-Meiningen mit Aubers „Frau Diavolo“ eröffnet wurde. Die Glanzzeit des Hauses aber beginnt mit Herzog Georg II., der Herzogtum samt Theater im Jahr 1866 übernahm. Er schaffte das Musiktheater gleich wieder ab und konzentrierte sich, ganz der Romantiker des 19. Jahrhunderts, auf das Schauspiel. Der kunstsinnige Regent leitete das Haus selbst und führte demokratische Prinzipien ins Theater ein: die Schauspieler durften sich in die Regiearbeit einbringen. Der Wunsch nach einem Gesamtkonzept für Stück, Darstellung, Ausstattung und Regie etablierte sich und wurde als „Meininger Theaterreform“ bekannt. Der „Theaterherzog“ legte großen Wert auf stimmige Inszenierungen und legte damit den Grundstein für das moderne Regietheater. Er holte den Regisseur und Schauspieler Ludwig Chronegk ans Haus, mit dem er die „Meiniger Prinzipien“ entwickelte. Sie erscheinen uns heute, 150 Jahre später, selbstverständlich, aber um 1870 war es wahrlich revolutionär, sich am Drama direkt zu orientieren, die Ensembleleistung bis in die kleinste Rolle in den Vordergrund zu stellen, einen einheitlichen Stil in Bühnenbild und Ausstattung zu verfolgen und ein asymmetrisches Bühnenbild zu pflegen. Bei den Schauspielern waren Starallüren absolut verpönt und die Darstellung einer Rolle sollte absolut naturalistisch sein.
Der Erfolg dieser neuartigen Theaterregeln war so groß, dass die Meininger auf Tournee gingen und zwischen 1874 und 1890 in 38 Städten Europas 81 Gastspiele mit insgesamt 2591 Vorstellungen gaben. Damit verbreiteten sich die Grundsätze von Schauspiel und Regie in ganz Europa – mit Nachwirkungen, die bis heute spürbar sind. Das Eintauchen in eine Rolle, das Verbinden der eigenen Persönlichkeit mit einer dramatischen Figur übernahmen Schauspieler in anderen Ländern. Daraus entwickelte sich das „method acting“, das über den Russen Konstantin Stanislawski und den Amerikaner Lee Strasberg nach Hollywood kam und bis heute die hohe Schule der Schauspielerei darstellt, Robert de Niro und Marlon Brando sind zur zwei der großen Namen, die nach dieser Methode arbeite(te)n.
Es ist eben diese gemeinsame Unterordnung aller Beteiligten unter das Stück, sei es nun Schauspiel oder Oper, die das Meininger Theater bis heute herausragend macht. Davon zeugt auch die aktuelle Inszenierung der „I Puritani“. Weit über Südthüringen hinaus hat sich das Theater einen Ruf erspielt, dem auch 40 Jahre DDR nicht schaden konnten. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise für Darsteller, Sänger und Regiearbeiten sprechen eine eindeutige Sprache. Nach der umfassenden Renovierung vor zwei Jahren strahlt das Haus in frischem Glanz und nimmt heute wieder seinen durch Tradition und Innovation geprägten Platz in der deutschen Theaterszene ein.