Mixtur

Zettels´s Traum und Lesers Trauma

Zum Hundertsten von Arno Schmidt

veröffentlicht am 08.01.2014 | Lesezeit: ca. 5 Min.

So, wie er von Gustav Mahlers Partituren behauptete, sie hätten ihm das „größte Lektüreerlebnis“ seines Lebens geschenkt, so erinnerte sich Hans Wollschläger im April 1989 an Arno Schmidt (nachdem er mit der ungeheuerlichen Chuzpe eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Lenzen vorausgeschoben hatte: „Ich glaubte damals von niemandem lernen zu können, außer von ihm.“): „Ich habe von ihm, rundum gesagt, alles Wichtige gelernt, was ich überhaupt gelernt habe.“ Wollschläger hatte Schmidt in jener Zeit, noch in Darmstadt, 1958, einfach so besucht, „und er machte mir die Tür auf und stand riesig von Körpergröße und, wie nach wenigen Sekunden für mich klar war, riesig auch an geistiger Größe über mir“.

Zwischen den beiden entwickelte sich, nachdem Arno und Alice Schmidt in der Einsamkeit des Heidefleckens Bargfeld – keine Kirche, ein Wirtshaus, das zugleich als Postamt funktionierte, ein Kolonialwarenladen alten Schlages, ein Kriegerdenkmal, ein Eichenkamp, rundum Heide, etwas Wacholder – ein Haus gefunden hatten, „Fachwerk, Lehmziegel, mit Brettern verschalt / Baujahr 1948; ausgezeichnet erhalten / 1200 qm Land mit Obstbäumen / Lage: Osthaide, 30 km östlich von Celle […] / vom Schätzer auf 18.000 veranschlagt“, eine Art Lehrer-Schüler-Verhältnis, und zwar, wie Wollschläger bemerkte, „über mindestens fünf Jahre etwa hin“. In der Tat ist es so, dass ohne Zettel’s Traum, ohne dieses fraglos gewichtigste, zwischen 1963 und 1970 entstandene Buch der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, 1334 faksimilierte Typoskriptseiten im DIN A3 Format stark und über acht Kilo schwer, Wollschlägers Herzgewächse oder Der Fall Adams von 1982, nicht zu denken ist. Für die Publikation dieser Fragmentarischen Biographik in unzufälligen Makulaturblättern hatte sich Schmidt, immer wieder und doch erfolglos, eingesetzt.

Zwischen Wollschläger, der zuletzt in Dörflis in den Haßbergen lebte und im Mai 2007 verstarb, und dem am 18. Januar 1914 in Hamburg geborenen, am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirnschlages in Celle gestorbenen Schmidt bestand eine enge künstlerische Wahlverwandtschaft. So warb Wollschläger über Jahrzehnte hinweg für Karl May, den angeblich unterschätzten, für die Jugend abgestempelten Autor, über dessen Wesen, Werk und Wirkung Schmidt 1963 eine Studie vorgelegt hatte (Sitara und der Weg dorthin). Zwei Jahre später brachte Wollschläger selbst die rororo-Monographie zu May heraus. Beide Autoren arbeiteten von 1966 bis 1973 an einer Übersetzung des Gesamtwerkes von Edgar Allan Poe. Schmidt hatte zudem James Fenimore Cooper ins Deutsche gebracht, William Faulkner und Wilkie Collins, Wollschläger hingegen neben Raymond Chandler und Dashiell Hammett naturgemäß den Ulysses (1922; 1975) von James Joyce.

So darf es nicht verwundern, wenn Wollschläger 1982 der erste Preisträger des mit 50 000 DM dotierten Preises der Arno-Schmidt-Stiftung war. Diese hatte Alice Schmidt und, vor allem, Jan Philipp Reemtsma ermöglicht. Reemtsma ist es weiters zu verdanken, dass Schmidt, wenn auch erst spät, vom Sommer 1977 an, eine monatliche Unterstützung von 500 Mark erhielt. Reemtsmas Angebot, der ihm dadurch die von finanziellen Sorgen unbeschwerte Konzentration auf sein „eigentliches Werk“ möglich machen wollte, hatte Schmidt keinesfalls umgehend angenommen. Schmidt, der Tag für Tag spätestens zwischen vier und fünf Uhr in der Frühe an seinem Schreibtisch und also über seinen Zettelkästen saß, Schmidt, der den Deutschen pauschal Faulheit vorwarf und dem Geschwätz von der 40-Stunden-Woche zumindest während des Entstehens von Zettel’s Traum selbstbewusst entgegenhalten konnte: „So habe ich jeden Tag 14 bis 16 Stunden gearbeitet.“

Es galt, eine Unmenge an Material zusammenzutragen, Zettel zu ordnen, Zitate zu verifizieren, Werke nachzuschlagen, Exzerpte anzufertigen. Zettel’s Traum ist trunken von Zitaten und Anspielungen, so trunken, dass sich seit 1972 bis auf den heutigen Tag in dem Periodikum Bargfelder Bote ein „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat“ zusammenfindet und dort Materialien zum Werk des Autors bündelt. Vom Traum zum Trauma ist es nur einen Vokal weit. Dass es sich lohnt, sich der Mühe der Lektüre von Schmidts Prosa zu unterziehen – und zwar nicht nur im Jubiläumsjahr – stellte bereits 1950 der im vergangenen Juni verstorbene Walter Jens heraus: „Ein toller Knabe. Zuerst denkt man: Blödsinn. Dann ärgert man sich. Ein Mann offenbar, der sich für ein Genie hält und sich so gebärdet. Man liest weiter. Man ist entzückt, man ist ergriffen.“

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