Ausstellungen

Wo Vogelgesänge zu Konzertzyklen und Sandberge zu Skulpturen werden

Ein Besuch in Hannover

veröffentlicht am 08.04.2019 | Lesezeit: ca. 10 Min.

<p">„Möchte hören die Schalmeien/Und der Herden Glockenklang,/Möchte freuen mich im Freien/An der Vögel süßem Sang“, verleiht August Heinrich von Fallersleben seiner „Sehnsucht nach dem Frühling“ Ausdruck und spricht uns dabei aus der Seele. Die ersten Sonnenstrahlen treten hinter der Wolkendecke hervor und uns lockt es aus den Häusern, auf zu neuen Ausflugszielen.

Ein solches Ausflugsziel stellen in diesem Jahr einmal mehr die 2015 mit dem Europäischen Gartenpreis ausgezeichneten Herrenhäuser Gärten in Hannover dar. Auf 135 Hektar vereinen diese drei Stilrichtungen der Gartenkunst: Barocke Elemente wie Kaskaden und Fontänen treffen hier auf Aspekte englischer Landschaftsgärten mit weiten Rasenflächen, stillen Weihern und dekorativen Brücken, die einen bewussten Gegensatz zu dem formalen barocken Grundriss bilden. Hinzu tritt ein Botanischer Garten, der mannigfachen heimischen sowie exotischen Pflanzen ein Zuhause bietet. Gekrönt wird diese Gartenpracht von einem Barockschloss, welches als einstige Sommerresidenz der Welfen fungierte.

Ob ihrer Schönheit und Ästhetik laden die Herrenhäuser Gärten jederzeit zum Lustwandeln ein, ein Besuch lohnt sich jedoch vom 10. – 26. Mai ganz besonders: Die KunstFestSpiele, die jährlich die Gärten in ihrem elegantesten Glanz erscheinen lassen, finden zum zehnten Mal statt und dieses Jubiläum soll königlich zelebriert werden.

Das Festival, welches Musiktheater, Performances, Tanz, Konzerte und Installationen in prächtiger Kulisse miteinander vereint und spielerisch Genregrenzen überwindet, feiert am 12. Mai seinen Geburtstag und lädt bei freiem Eintritt dazu ein, zahlreiche Installationen und Aufführungen zu genießen und einen ersten Einblick in das bunte sowie breit gefächerte Repertoire zu erhalten. Doch dies ist nur einer von vielen Höhepunkten.

So wird ebenfalls am ersten Festivalwochenende, am 10. und 11. Mai, die Oper „Kopernikus“ von Claude Vivier in einer Deutschen Erstaufführung der Neuinszenierung von Peter Sellars in der Orangerie gezeigt. Vivier blieb Zeit seines Lebens ein autodidaktischer Einzelgänger, der seine Werke von balinesischen Feuerbestattungen und Mitternachtsmessen in Montreal inspirieren ließ. Die sakral anmutenden Klänge treffen auf Elemente alter und neuer Musik und ehren in „Kopernikus“ jene Menschen, die nach neuen Welten suchen. Dabei treten Figuren wie Kopernikus selbst, Mozart und die Königin der Nacht, Tristan und Isolde, Lewis Carroll sowie die hinduistische Gottheit des Feuers Agni in den Vordergrund.

Berühmte Protagonisten der Kultur- und Literaturgeschichte, vornehmlich aus William Shakespeares Feder, sind auch in der Performance „Complete Works: Table Top Shakespeare“ der Gruppe Forced Entertainment anzutreffen. Die verschiedenen Aufführungen erstrecken sich beinahe über den gesamten Festivalzeitraum und bringen dabei alle 36 Dramen des Ausnahmedramatikers in neun Tagen auf die Bühne. Unglaublich mag dies erscheinen, doch die Mitglieder der Theatergruppe pflegen eine minimalistische Herangehensweise, bei der sie lediglich einen Tisch, verschiedenste alltägliche Objekte, ihre Stimme und je Werk rund 45 Minuten benötigen. Dabei interagieren die Performer/innen beinahe wie Puppenspieler mit ihren Alltagsgegenständen und hauchen ihnen Leben ein, wodurch das Publikum anhand von Salzstreuern als Königen und Spraydosen als Dienern in die Shakespeareschen Universen Hamlets, Julias und Romeos wie auch des Sommernachtstraumes entführt wird.

Eine weitere sehr anregende und interaktive Performance wird von Kate McIntosh geboten. „In Many Hands“ lädt das Publikum dazu ein, sich gemeinsam an Unbekanntes heranzutasten, wobei die Möglichkeit einer reinen und unmittelbaren menschlichen Erfahrung durch die eigenen Sinnesorgane geboten wird. Dafür kreiert die Künstlerin diverse ästhetisch sensorische Situationen zum Berühren, Riechen und Lauschen, woraus nicht zuletzt eine meditative Expedition resultiert. Die Empfindung, die Welt zum ersten Mal oder mit ganz neuen Augen zu erblicken, breitet sich aus, ungewohnte Blickwinkel eröffnen sich und paaren sich mit Experimentierfreude, unkonventionellem Humor und einer neu gewonnenen Aufmerksamkeit für unsere Außen-, und möglicherweise sogar die Welt in unserem Inneren. Dargeboten wird diese Performance am 25. und 26. Mai in der Orangerie.

Am selben Wochenende ist ebenfalls eine naturnahe, sehr frühlings- und zauberhaft anmutende Aufführung zu erleben: „Catalogue d’Oiseaux“ von Olivier Messiaen. Das Werk ist in vier Konzerte gegliedert, wovon das erste am Samstag um 17 Uhr im Großen Garten stattfindet, das zweite um 20 Uhr im Gartentheater, das dritte um 23 Uhr im Schloss Herrenhausen und den schließenden Part bildet das vierte Konzert am Sonntag um 06 Uhr zum Tageserwachen im Großen Garten, um die einzelnen Stücke des Zyklus zu den Zeiten erklingen zu lassen, zu denen Vögel naturgemäß tirilieren. Denn genau dies ist das Sujet dieses Meisterwerkes: Der Catalogue d’Oiseaux ist Messiaens Ode an die Natur und ihre magischen Vogelgesänge. Diese Vogelgesänge als inspirierende Basis gebrauchend erschuf der höchst originelle Modernist Kompositionen für Klavier, die die Frische des Frühlings einfangen und in poetische Klänge übersetzen. Auf diese Weise entstanden Tableaux, die zur Meditation einladen und sich in die imposanten Herrenhäuser Gärten so selbstverständlich einfügen wie liebliches Vogelgezwitscher an verträumten Frühlingsmorgen, an denen der Tau seicht in der Sonne glitzert. Ein Werk voll Einfallsreichtum, Poesie und Wahrhaftigkeit und vor allem eines, das in der Klaviermusik des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht.

Zahlreiche weitere beeindruckende Programmpunkte sind dem Internetauftritt zu entnehmen.

So zweifellos die KunstFestSpiele einen der besten Gründe für einen Besuch im herrlichen Hannover darstellen, so gibt es noch unzählige andere. Am Maschsee lässt es sich in der Frühlingssonne fürstlich entlang flanieren, die Staatsoper bietet stets ein bezauberndes Programm und auch die hiesige Museenlandschaft lockt mit ihrem Facettenreichtum. Aus all den unverwechselbaren Häusern haben wir das Sprengel Museum für einen Besuch gewählt, da auch dieses wie die KunstFestSpiele ein Jubiläum zelebriert: 40 Jahre Sprengel Museum, 50 Jahre Schenkung Sammlung Sprengel. Und zu diesem besonderen Ereignis trumpft das Ausstellungshaus mit herausragenden Expositionen auf.

Der Schwerpunkt des 2017 vom Kritikerverband AICA zum Museum des Jahres gekürten Hauses liegt auf der Kunst des 20. sowie 21. Jahrhunderts und spiegelt sich auch in den aktuellen Schauen wider. So sind ab dem Frühjahr namhafte Modernisten und Zeitgenossen in den klar gegliederten und außen dunkel gehaltenen Formen am Kurt-Schwitters-Platz vertreten. Schlichte Architektur, die durch ihren White-Cube-Charakter den ausgestellten Werken die Bühne überlässt und zeitgleich mit ihnen in einen subtilen Dialog tritt, sie mit ihrer Authentizität und reinen Eleganz betont und für sich sprechen lässt.

Der erste Künstler, der dabei durch seine Werke zum Publikum spricht, ist der Photograph Umbo, der als Erfinder des Neuen Bildes der Frau und der Straße sowie der photographischen Reportage gilt. Unter dem Titel „Umbo. Fotograf“ versammelt das Sprengel Museum 200 Werke, die von unprätentiöser, natürlicher, bewegter wie auch bewegender Portraitphotographie bis zu beinahe zufällig erscheinenden Bildern mit Schnappschusscharakter reichen, die nicht konstruiert und dabei dennoch durchdacht erscheinen.

Neben Arbeiten, die Frauen zeigen, gelangen wir vom 08. Juni bis zum 01. September in der Schau „Aylin Aycock“ zu Arbeiten, die von Frauen kreiert wurden. Die New Yorker Künstlerin greift zuhauf aktuelle Sujets wie den Balanceverlust in unserem Umgang mit der Umwelt auf und bezieht dafür sowohl natürliche Materialien als auch Maschinelles in ihre Kunst ein, wodurch ein Dualismus zwischen der Natur und der Industrie, dem Einzigartigen und dem Genormten entsteht. Auf diese Weise hält sie ihrem Publikum einen Spiegel vor und regt zur Reflexion an. Ein ähnliches Anliegen verfolgt auch Louisa Clement in der Schau „Remote Control“ bis zum 10. Juni. Jedoch stellt sie vielmehr die Rolle des Menschen im digitalen Zeitalter und auch die Integrität des Körpers durch vehemente Eingriffe der Medizin und Technik in Frage. Überdies beinhaltet ihr Schaffen eine politische Dimension, die sich nicht zuletzt in ihrem Werk „Transformationsschnitt“ zeigt, das aus Abfallprodukten unschädlich gemachter Chemiewaffen besteht.

Politische Hintergründe prägen auch „Verfemt – Gehandelt. Die Sammlung Doebekke im Zwielicht: Von Corinth bis Kirchner“ (17. Juni bis 17. November). Deutlich steht hier die Provenienzforschung im Vordergrund. Anhand von 60 Werken werden Handelswege und vormalige Eigentumsverhältnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und nach 1945 aufgezeigt, wodurch Schicksale der in Zeiten des NS-Regimes entrechteten Juden nachgezeichnet werden.

Neben diesen und weiteren fulminanten Sonderausstellungen macht sich das Sprengel Museum zum Jubiläum selbst das Geschenk einer neuen Dauerausstellung, welche ab dem 12. April im Neubau zu sehen ist. „ELEMENTARTEILE. Grundbausteine des Sprengel Museum Hannover und seiner Kunst“ lässt die Besucher in Welten der modernen und zeitgenössischen Kunst eintauchen und dabei elementaren Fragen nachspüren: Welche Rolle spielt die Farbe als einer der Grundbausteine der Kunst? Auf welche Realitäten beziehen sich Werke zwischen Konzeptkunst, Abstraktion und Figuration? Wie spiegelt sich Geschichte in der Kunst? Bei insgesamt 150 Werken treffen verschiedenste Gattungen und namhafteste Künstler von Max Beckmann über Louise Bourgeois sowie Niki de Saint Phalle bis hin zu Gerhard Richter aufeinander. Und damit nicht genug der Besonderheiten des Jubliäumsjahres: Zu all den hochkarätigen Schauen organisiert das Museum eine Jubiläumsfeier am 25. August 2019. So scheint es, als gebe es nicht nur zwei sehr gute Gründe, sondern sogleich zwei passende Termine, um Hannover zu besuchen.

Copyright Fotos:

Claus Goedicke, Blume[Tulpe], aus der 66-teiligen Reihe „Dinge“ (Teil 39), 2013, Inkjet-Druck auf säurefreiem Hahnemühle Photo Rag, 59,4 × 42 cm (Blattmaß), 42,5 × 34 cm (Höhe × Breite), Sprengel Museum Hannover, Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover, Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover, © Claus Goedicke

Ernst Ludwig Kirchner, Musikzimmer II, 1915, Öl auf Leinwand, 121,5 × 91,3, Sprengel Museum Hannover, Kunstbesitz der Landeshauptstadt Hannover, Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover, Gemeinfrei

Complete Works, Table Top Shakespeare, Forced Entertainment, Complete Works, Foto © Hugo Glendinning

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