Unterwegs

Wo Island und Venedig nur 900 Meter trennen

Zu Besuch im Kunstmuseum und in der Staatsgalerie Stuttgart

veröffentlicht am 30.09.2019 | Lesezeit: ca. 9 Min. | von Regina Littig

Dani Gal, White City, 2018, HD-Video, Farbe, Ton, Colour HD video, sound, 25’, Still

Dani Gal, White City, 2018, HD-Video, Farbe, Ton, Colour HD video, sound, 25’, Still, Foto © Courtesy: Dani Gal, Galerie Karel Willborn, Düsseldorf, Kamera: Itay Marom

Stuttgart. Die erste Assoziation führt uns zu international beliebten Fahrzeugen und ihren Herstellern, die ihren Sitz in der Baden-Württembergischen Landeshauptstadt haben. Eine weitere Überlegung führt zu Stuttgart 21, einem Bauprojekt, das sich ähnlicher Beliebtheit erfreut wie der Berliner Flughafen. Und darüber hinaus? Darüber hinaus hört man wenig von der schwäbischen Metropole, wobei sie definitiv einen Besuch wert ist, der offenbart, dass es hier mehr zu entdecken gilt als Automobile und unvollendete Bauvorhaben.

So nimmt sich architektonisch reizvoll und überaus gelungen beispielsweise das 2005 entstandene Kunstmuseum aus. Im Herzen der Stadt beinahe majestätisch auf dem Schlossplatz thronend lässt der strahlende Glaskubus bereits erahnen, welch hochkarätige Schätze sich hinter diesen geschickt angelegten Wänden verbergen. Ein weitläufiger Sammlungsbereich erstreckt sich hier über zwei Etagen wie auch in einem unterirdischen ehemaligen Tunnelsystem und wird stetig von wechselnden Ausstellungen ergänzt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Moderne und Gegenwart, wobei auch regionale Besonderheiten Beachtung finden. So widmet sich das Kunstmuseum dem Schwäbischen Impressionismus, greift jedoch auch Strömungen der Klassischen Moderne sowie der Kunst nach 1945 auf. Die aktuelle Sammlungspräsentation hält Kunstwerke namhafter Maler wie Otto Dix, Willi Baumeister, Josephine Meckseper und Dieter Roth bereit und beinhaltet einen Themenblock zur Entwicklung der ungegenständlichen Malerei seit den 1950er Jahren. Überdies liegt ein Augenmerk auf sehr aktueller Gegenwartskunst, welcher durch das Format „Frischzelle“ eine Plattform geboten wird, die ihresgleichen sucht. Aufstrebenden Künstlern wird hier bisweilen die Möglichkeit ihrer ersten musealen Einzelausstellung zuteil. So auch André Wischnewski. Die Arbeiten des Bildhauers, der sein Studium im Frühjahr 2019 als Meisterschüler abschloss, befassen sich mit der Korrelation zwischen Sprache und Architektur und sind vom 19.10.2019 bis zum 6.9.2020 zu sehen.

Eine weitere aktuelle Schau nimmt sich der Op Art an. Unter dem Titel „Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 - 1970“ präsentiert das Kunstmuseum vom 23.11.2019 bis zum 19.4.2020 visuelle Strategien, die optische Täuschungen hervorrufen und somit zu einer manipulierten Wahrnehmung beitragen. Durch Hilfsmittel wie geometrische Strukturen oder Licht lassen Op-Art-Künstler einen aktiven Dialog zwischen Werken und Betrachtern entstehen, wobei sie sich nicht ausschließlich auf die visuelle Wahrnehmung konzentrieren, sondern an einem emotionalen, gesamtkörperlichen Erlebnis für ihr Publikum interessiert sind. Gezeigt werden zahlreiche Bilder, jedoch auch begehbare Installationen von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Ergänzt werden diese Werke durch Bezüge zur Kunst des 15. bis 18. Jahrhunderts, in der optische Effekte und Täuschungen ihre Anfänge fanden.

Die dritte Ausstellung, die noch bis zum 20.10.2019 zu sehen ist, stellt einen absoluten Höhepunkt dar. „Ragnar Kjartansson. Scheize - Liebe - Sehnsucht“ ist wie ein Spaziergang durch Gefühlswelten, mit sphärischen Klängen, melancholisch wolkenverhangenen Berggipfeln, skandinavischen Landschaften, und einem schelmischen Augenzwinkern. Die Überblicksausstellung des isländischen Künstlers beinhaltet wohlbekannte Videoserien, jedoch auch völlig neue Arbeiten, die erstmals in Stuttgart zu sehen sind. In Kjartanssons Werken verschwimmen die Grenzen zwischen bildender und darstellender Kunst, zwischen Literatur und Musik. Inhaltlich geht der Künstler auf Stereotypen und Motive der westlichen Erinnerungs- und Wissenskultur ein, begibt sich aber auch auf politisch brisantere Pfade und spricht beispielsweise in einer Gemäldeserie den Konflikt um den israelischen Siedlungsbau an. Die Ernsthaftigkeit solcher Themen bricht Kjartansson sodann mit seinem unverwechselbaren Humor und pointierter Zuspitzung, auch wenn ein Großteil seiner Werke von Trauer und Tod geprägt sind. Selbst verkündet der Künstler, er umgebe sich gerne mit Liebe und Sehnsucht, in melancholischer Manier, es müsse jedoch auch „Scheiße“ dabei sein, um nicht zu rührselig zu werden. So nimmt sich auch seine Ausstellung im Kunstmuseum aus: Berührend und emotional, jedoch nicht kitschig. Niemals mit erhobenem Zeigefinger, eher mit offenen Fragen und der Einladung zum Nachsinnen. Still, aber nicht passiv, sanft, an anderen Stellen zupackend. Kjartansson entführt uns in fremde Welten, nimmt uns an die Hand und zeigt, wie wir unser Herz öffnen, um seiner Kunst den Raum zu geben, den sie verdient. Dabei müssen wir nicht versuchen, sie mit unserem Verstand zu begreifen, sondern uns auf sie und auch auf Kjartansson als Künstler einlassen, weil er häufig als Protagonist seiner eigenen Werke auftritt, sich bisweilen als Dandy, Ritter oder Swingsänger inszeniert und dadurch einmal mehr signalisiert, wie viel Herzblut in seiner Arbeit steckt.

Neben diesen herausragenden Schauen verfügt das Kunstmuseum Stuttgart über eine weitere Besonderheit: Eine Außenstelle. Das Museum Haus Dix widmet sich dem Œuvre des führenden Repräsentanten der Neuen Sachlichkeit und beherbergt eine weltweit bedeutende Sammlung an Werken des Künstlers. Das Haus selbst diente der Familie Otto Dix’ ab 1936 als Wohnhaus. Bis zum Jahre 1969 wohnte und arbeitete Otto Dix in der Immobilie in Hemmenhofen und befasste sich in seinen Arbeiten zunehmend mit der Landschaft am Bodensee. Seit 2013 gehört dieses Kleinod zum Kunstmuseum Stuttgart und kann von März bis Oktober besucht werden.

Zurück in Stuttgarts Innenstadt gilt es selbstverständlich noch weitere Meilensteine der deutschen Museenlandschaft zu entdecken. So die Staatsgalerie Stuttgart. Mit ihrem reichen Bestand an Meisterwerken vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart bietet sie sowohl dem Barock-Liebhaber als auch der Anhängerin von Avantgardekunst genau das richtige Sortiment. Als besonderes Schmankerl gilt hier nicht zuletzt der eigens vom Künstler eingerichtete Joseph-Beuys-Raum. Daneben ist in der Staatsgalerie ein überaus erwähltes Werk zu bestaunen, das vor nicht allzu langer Zeit für internationale Schlagzeilen sorgte. Die Rede ist von keinem Geringeren als Streetart-Legende Banksy und seinem Ballonmädchen. Bei einer Auktion im vergangen Oktober zerstörte sich das Werk nach dem Hammerschlag zur Hälfte selbst. Seither gilt das den Titel „Love is in the bin“ tragende Werk als Ikone, welches den schnelllebigen Kunstmarkt in Frage stellt und die Kommerzialisierung von Kunst anprangert. Des Weiteren scheint Banksy durch seine Aktion den Hype um seine Person zu hinterfragen. Ob ihm das tatsächlich gelungen ist, ist fraglich, da das Werk eine weitaus größere Aufmerksamkeit erfährt, nachdem die Hälfte einem in den Bilderrahmen eingebauten Schredder zum Opfer fiel. In der Staatsgalerie trifft „Love is in the bin“ seit diesem Frühjahr nun auf Arbeiten aus über 850 Jahren und wird an wechselnden Orten innerhalb der Sammlung, mal neben Rembrandt, mal gegenüber von Duchamp, präsentiert, sodass die Besucher sich immer wieder auf eine neue Entdeckungsreise begeben und Banksy in verschiedenartigen Kontexten erleben können, um sich selbst anschließend die Frage zu beantworten, ob Streetart im Museum funktioniert oder ob Banksy nicht doch an Straßenecken und verwitterten Gebäuden besser zur Geltung kommt.

Ganz klare museale Themen greifen hingegen die aktuellen Schauen auf, die jeweils ab dem 11.10.2019 bis zum 2.2.2020 zu sehen sind und unseren Blick nach Italien lenken. Venedig ist der Ort, um den sich die zwei Expositionen drehen. „Tiepolo. Der beste Maler Venedigs“ beschäftigt sich mit Giovanni Battista Tiepolo, der von seinen Zeitgenossen tatsächlich als bester Maler Venedigs zelebriert wurde. Anlässlich seines 250. Todestages stellt die Staatsgalerie ihren umfassenden Bestand seiner Werke aus, der anhand kostbarer Leihgaben aus aller Welt ergänzt wird. Dabei entsteht ein dezidierter Blick auf die gesamte Schaffenszeit Tiepolos, indem sowohl elegante Gemälde mit den Themen Mythologie und Geschichte, dramatische religiöse Bilder als auch Karikaturzeichnungen Eingang in diese Präsentation finden. Parallel ist im Graphik-Kabinett die Ausstellung „La Serenissima. Zeichenkunst in Venedig vom 16. bis 18. Jahrhundert“ zu sehen. Selbstverständlich ist der beste Maler Venedigs auch hier vertreten, und mit ihm Zeitgenossen wie Jacopo Tintoretto, Paolo Veronese, Sebastiano Ricci und Giuseppe Bernardino Bison, die der Virtuosität Tiepolos in nichts nachstehen. Sie wissen darum, den nonchalanten Charme und das Wesen Venedigs einzufangen und auf Papier neu zu entfalten. Die einzigartigen Lichtverhältnisse, das reflektierende Wasser der Lagunenstadt und die dunstige, wie von Morgentau durchtanzte Luft gestatten eine eigene Form der Wahrnehmung und halten Einzug in die Staatsgalerie Stuttgart. Lässigkeit wird zum Leitmotiv der venezianischen Zeichenkunst, die oftmals durch einen kraftvollen, vibrierenden Strich und ausbalancierte Leichtigkeit zum Leben erwacht.

Außer dieser pittoresken Stadt im fernen Italien steht auch die Heimat der Staatsgalerie im Mittelpunkt der aktuellen Ausstellungen. Mit Stuttgart befasst sich nämlich „Weissenhof City. Von Geschichte und Gegenwart und Zukunft einer Stadt“ bis zum 20.10.2019. Es geht um die Anfänge des Bauhauses, die mit Stuttgart unumgänglich verstrickt sind, um Ideen, Wirkungs- und Rezeptionsstränge, die es von Stuttgart aus zu untersuchen gilt und es geht darum, all die Ambitionen des Bauhauses weiterzuführen, den Universalismus der Moderne weiterzudenken und greifbar zu machen. Im Zentrum steht dabei der Bau der Weissenhofsiedlung unter der Leitung Mies van der Rohes, die mit dem Bauhaus eng verwoben war und als global rezipierter Meilenstein des Neuen Bauens gehandelt wird. Auf diese Weise beginnt die Vielfalt der Landeshauptstadt Baden-Württembergs sich zu zeigen und schnell wird klar, dass Stuttgart mehr zu bieten hat als schnelle Autos und andauernde Bauprojekte.

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