Gewagte Unterstellungen

Schwierig ist bisweilen aller Anfang, z.B. bei der Frage, wie man Menschen brieflich oder per Mail anredet, die man siezt. Die Wahl zwischen „Liebe Frau soundso“ und „Sehr geehrter Herr nochwas“ ist ziemlich extrem, aber dazwischen scheint es nichts zu geben. Das „Sehr geehrt“ ist einigermaßen steif und umständlich dazu, ganz davon abgesehen, dass man allzu leichtfertig große Ehre an jemanden verteilt, der sie vielleicht kaum verdient hat. Andersherum fragt man sich, ob jene Siezbekannten, die man leutselig mit „Liebe“ anschreibt, wirklich so lieb sind. Beides, die Liebe wie die Ehre, sind eigentlich gewagte Unterstellungen.
Was bleibt in diesem Dilemma. Das leider üblich gewordene „Hallo“ sollte, wenn überhaupt, der mündlichen Begegnung vorbehalten bleiben. Das etwas wichtigtuerische „Hi“ deutet auf einen kurzen USA-Aufenthalt hin, wahlweise auf die Zugehörigkeit zum Hipster-Milieu. Auch „Servus“ dürfte eine Spur zu anbiedernd sein. Neuerdings bevorzugen Leute, denen die genannten Extreme nicht behagen, eine Anrede je nach Tageszeit, also z.B. „Guten Morgen, Frau…“. Das funktioniert aber nicht, wenn man spätabends vor der Tastatur sitzt und wohl kaum eine „Gute Nacht“ wünschen kann, womöglich ergänzt noch um ein „Schlafen Sie gut“.
Kürzlich ist mir eine Redewendung in Erinnerung gekommen, die etwas veraltet scheint, aber sehr praktisch – weil kurz! – ist. Wie wärs’ mit „Werte Frau…, werter Herr…“? Das drückt eine gewisse Wertschätzung aus, aber keine überschwängliche. Und wie gesagt: In der Kürze liegt die Würze. Ich habe schon Versuche damit gemacht, bin jedoch nicht so sicher, dass die Wendung richtig ankommt bzw. im beabsichtigten Sinne verstanden wird. Es könnte nämlich sein, dass sie auf einen leicht ironischen Unterton schließen lässt. Das finde ich zwar nicht, bin aber lieber vorsichtig. Was meinen Sie? Vorschläge willkommen!