Ein Kompendium des analytischen Scharfsinns
Der Reclam Verlag bringt Voltaires „Philosophisches Taschenwörterbuch“ erstmals in einer vollständigen deutschen Ausgabe heraus
veröffentlicht am 19.04.2021 | Lesezeit: ca. 3 Min. | von Martin Köhl
Es ist ein Jammer, dass Voltaire, der große französischen Aufklärer, Philosoph und Essayist kaum noch gelesen wird, selbst in Frankreich nicht. Für eine erste Annäherung an Voltaires Denken ist sein 1764 erschienener „Dictionnaire philosophique portatif“ die beste Wahl. „Philosophisches Taschenwörterbuch“, das klingt nach einer systematischen Darstellung des Stoffes, natürlich alphabetisch geordnet. Deutsche Teilausgaben mit ausgewählten Artikeln gab es schon lange, aber nie eine Gesamtübersetzung dieses Büchleins, von dem der Verfasser sagte, es seien „die kleinen Bücher zu 30 Sous“, die man fürchten müsse, denn „das Christentum würde sich niemals durchgesetzt haben, wenn das Evangelium 1200 Sesterzen gekostet hätte“.
Dem Reclam-Verlage ist es zu danken, dass der gesamte Dictionnaire nun erstmals in einer deutschen Gesamtausgabe erhältlich ist, und das auch noch in einem aufwändig gestalteten Buch mit repräsentativem Einband. Hier liegt kein Wörterbuch im engeren Sinne vor, sondern eine Sammlung von Essays, die oft einen Bezug zu den Debatten der zeitgenössischen Intelligenzija haben. Religiöse Themen stehen im Vordergrund und werden auf der Basis einer profunden Kenntnis aller einschlägigen Schriften diskutiert. Voltaires bisweilen beißender analytischer Scharfsinn oder Spott gilt jedoch ebenso den weltlichen Themen, zumal jenen, die seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besonders berühren.
Voltaire war keinesfalls Atheist, doch er geißelt die Buchreligionen an ihren wunden Punkten, nämlich an deren evidenten Widersprüchen, die er mit philologischer Akribie aufdeckt. Doch er musste natürlich vorsichtig sein, vor allem wenn es um die Kritik am zeitgenössischen Zustand des Christentums ging. Im Kapitel ‚Religion‘ gelang ihm ein rhetorisches Husarenstück. Er stellte dort nämlich spitzbübisch die Frage, welche Heilslehre „nach unserer heiligen Religion, die zweifelsohne die einzige gute ist, die am wenigsten schlechte“ wäre, sozusagen also die zweitbeste. Es folgt eine Aufzählung all jener Tugenden, die dem Christentum zu Voltaires Zeiten abgingen, von der Gerechtigkeit über die Toleranz bis zur Menschlichkeit….
Religiöse Vielfalt hat für Voltaire manche Vorteile, denn die landläufig als ‚Heiden‘ diskreditierten Andersgläubigen „hatten keine Religion, die andere ausschloss“. Im Gegenteil, denn „jedes Volk erkannte mehrere Gottheiten an und fand es gut, dass seine Nachbarn auch die ihren hatten“. Vielgötterei ist für ihn kein Kapitalverbrechen, sondern stiftet sogar Frieden, denn wenn jeder seine eigenen Götzen anbetet, kommt man sich bezüglich der Adressaten in Glaubensfragen nicht ins Gehege. Neben religiösen, ethischen oder politischen Fragen geht es Voltaire im ‚Dictionnaire’ vor allem um die Verbindlichkeit von gerechten Gesetzen und die Gleichheit vor diesen. Ein Buch zum Stöbern - es hat über 250 Jahre nach dem Erscheinen wenig von seiner Aktualität verloren.
Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, Reclam 2020, ISBN 978-3-15-011307-3, 444 Seiten, 36,-€