Leben Hand in Hand mit Scardanelli
Studierende stellen Mayröcker und Hölderlin vor
veröffentlicht am 17.06.2014 | Lesezeit: ca. 6 Min.
Er habe, schreibt der Berliner Harald Hartung, der sich – wie kein zweiter hierzulande – ganz der Lyrik und deren Kritik verschrieben hat, in seinen soeben bei Wallstein in Göttingen erschienenen „Launen der Poesie“, bei Celan nicht nachgezählt. Hartung, 1932 in Herne geboren, bezieht sich auf die kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte in einem Band. Bei der „nun achtzigjährigen Friederike Mayröcker“ (Hartungs Sammelrezension erschien erstmals im Juni 2005 im „Merkur“; Mayröcker darf in diesem Dezember ihren Neunzigsten feiern), bei Mayröcker also, über Jahrzehnte hinweg Ernst Jandls Lebenspartnerin, und den „855 Seiten des Bandes ‚Gesammelte Gedichte‘ sind es rund 1000 Gedichte aus 65 Jahren“.
Mayröckers späte Lyrik insgesamt, heißt es fünf Absätze weiter, werde zum lyrischen Tagebuch, zur „Mitschrift seelischer Prozesse als Sprachbewegungen“. Tatsächlich sind die Gedichte (längst sind es weit mehr als tausend) dieser am 20. Dezember 1924 in Wien, wo sie noch immer in einer bücher- und papierübersäten Wohnung lebt, so gut wie immer datiert, bisweilen sogar auf die Stunde genau. Das ist auch in Mayröckers „Scardanelli“-Zyklus so (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009. 52 Seiten, schönrote Klappenbroschur). Zwischen Januar und September 2008 sind diese etwas über drei Dutzend Poeme entstanden, in welchen die Wienerin den freien Rhythmen und dem hymnischen Melos des Tübinger Turmbewohners Hölderlin (1770 bis 1843) zu folgen sucht.
Scardanelli? Nach einer Zwangseinlieferung in das Tübinger Universitäts-„Clinikum“ wird Hölderlin 1807 als unheilbar geisteskrank und mit einer (angeblichen) Lebenserwartung von gerade einmal drei Jahren entlassen und dem Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer zur Pflege übergeben. Als „stiller Gast am Herd“ lebt der von dem Gros seiner Zeitgenossen verkannte Hölderlin bei Zimmer, dessen Tochter Lotte sich um ihn kümmert. Weitere sechsunddreißig Jahre lang, mithin die „Hälfte des Lebens“ (Wolfgang Rihm hat, unter anderen, das Gedicht vertont: „Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser.“). Er verleugnet seinen Namen, gibt sich den Besuchern gegenüber als „Buanarotti“, als „Killalusimeno“, als „Scardanelli“ aus.
Einen „Scardanelli-Zyklus“ hat, zwischen 1975 und 1991, der Schweizer Oboist und Komponist Heinz Holliger geschrieben, für Solo-Flöte, kleines Orchester, Tonband und gemischten Chor. Kleines Orchester? Es ist, jedenfalls was die Perkussionsinstrumente angeht, opulent besetzt: Marimba, Vibraphon, siebzehn japanische Tempelglocken, Darabukka, Schwirrholz, Windgeheul, Sandpapier und Wellkarton, sodann – „Naturlaute“ – dürres Laub in Schachteln, dürre Zweige, Glasscherben, Steinchen, Sand auf Tambourin und Wasser in Flaschen zum Gießen auf gut resonierender Unterlage. Eine revidierte Fassung kommt, mit dem Komponisten am Pult und mit Felix Renggli an der Solo-Flöte, am 30. August beim Lucerne Festival zur Uraufführung.
Zurück zu Mayröcker. Am heutigen Dienstagabend entführen Studierende der Neuen Deutschen Literatur an der Otto-Friedrich-Universität (Lehrstuhl Iris Hermann) von 20 Uhr an bei freiem Eintritt im Theater-Treff-Rondell in die Welt von „Friederike Mayröcker und Hölderlin“. Der lyrische Abend aus Licht, Text, Musik und Bildern will einen Zugang schaffen zu Mayröckers (nicht immer einfacher) Lyrik, zu ihrer Art des Schauens und Beobachtens. „Bei mir“, sagt Mayröcker, „ist es auch beim Schreiben immer so: Um Gottes willen nur keine Story, sondern einfach schauen. Die Dinge anschauen, die Welt anschauen, das Leben anschauen.“
Ihre Scardanelli-Gedichte handeln von Trauer und Tod, von Liebe und Freundschaft, von der Erinnerung, von Lektüren und Eindrücken aus der Natur. Oft sind es Widmungsgedichte, etwa an Valerie Lawitschka, die Geschäftsführerin der Hölderlin-Gesellschaft, und, naturgemäß,
an EJ
er lädt mich zum Essen es war schon Frühling wir waren
uns eins ich spürte die Fülle seines Geistes er trank
1 Glas Rotwein und mehr ich blickte ihn lange an faszte
nach seiner Hand die Zeit verging noch nicht so rasch wie
heute er wuszte Bescheid ich war geborgen an Gängelbanden
wie Kinder hält und es listet die Seele Hölderlin
Limonen nämlich heilig gesprochen in zerfetzter Kiste KONSUM
Limonen nämlich wo der südliche Himmel. Fröhlich waren
wir eine stille Fröhlichkeit ach ahnungslos war ich und
Vorfrühlingsmittag, sein Sacktuch (kariert) auf dem Gasthaustisch
die KNOSKE (nein, nicht KNOSPE) von Ponge –
das Nerven und Tanzen und in der Laube in der wir saszen sein
Herz (sein Schatten) das für mich schlug, jedes Eckchen der
Erde jede Hecke Halde Blume des Dichters : warme
Asche
1 Teebeutelchen ist INRI 1 kl.Vogelschädel auf unserem Bett
24.2.08
Der Eintritt ist, wie gesagt, frei. Zum Besuch kann nur geraten werden. Abschließend soll noch Robert Walser zu Wort kommen, wie Hölderlin psychisch angegriffen (Angstzustände, Halluzinationen, der „Patient gibt zu, Stimmen zu hören“, heißt es in einem Protokoll) und von 1929 an in der Heilanstalt Waldau bei Bern lebend, von 1933 an, gegen seinen Willen, in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau. Hier also der Schweizer über den schwäbischen Dichter: „Ich bin überzeugt, dass Hölderlin die letzten dreißig Jahre seines Lebens gar nicht so unglücklich war, wie es die Literaturprofessoren ausmalen. In einem bescheidenen Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Martyrium. Die Leute machen nur eins draus.“
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