Gewagtes Potpourri
Franz Lehárs Operettenzwitter „Giuditta“ wurde in einer Inszenierung Christoph Marthalers an der Staatsoper München geboten
veröffentlicht am 10.01.2022 | Lesezeit: ca. 4 Min. | von Martin Köhl
Der Widerstand von Staatsopernbetrieben gegenüber dem Genre der Operette hat eine lange Tradition. Das wäre auch fast der 1934 in Wien uraufgeführten „Giuditta“ Franz Lehárs zum Verhängnis geworden, denn der Operndirektor Clemens Krauss wehrte sich energisch gegen das Ansinnen, in seinen heiligen Opernhallen ein Werk aus der Feder des Operettenmeisters aufzuführen. Dass er nachgeben musste, hat der Wiener Staatsoper einen ihrer größten Kassenerfolge beschert. Der neue Münchner Staatsopernintendant Serge Dorny schert sich weniger um die Genregrenzen des Repertoires und hat zugelassen, dass neben der unvermeidlichen „Fledermaus“ nun auch ein Zwitter aus Oper und Operette gezeigt wird. Das ist die „Giuditta“ nämlich, freilich in der Inszenierung Christoph Marthalers auch eine Versuchsanordnung, die man wahlweise als Potpourri oder Collage bezeichnen könnte.
Wie fast immer arbeitet Marthaler auch in München mit der Bühnenbildnerin Anna Viehbrock zusammen. Das einheitliche, sich nur in Details verändernde Bühnenbild zeigt einen nüchternen Raum, der wahlweise als Turnhalle mit angeschlossenem Kegelklub oder Offizierskasino inklusive angebauter Conciergerie gedeutet werden kann. Das Ganze wähnt man schon aus anderen Inszenierungen zu kennen, was kein Wunder ist, denn Anna Viehbrock bekennt sich zur Nachhaltigkeit und praktiziert diese auch. Folglich hat sie keine Angst vor gebrauchten Möbeln. Keglerinnen hantieren mittels monotoner Bewegungen mit Kugeln, die bald einer anderen Symbolik weichen müssen, denn auch auf den Tischen der Offiziere liegen solche Kugeln, ergo: es ist Krieg.
Die Handlung des Originals beruht auf der ewigen Sehnsucht nach einem unbeschwerten Leben im Süden, weshalb frau auch gerne mal den Gatten sitzen lassen darf, in diesem Falle wegen des vergötterten Octavio. Dummerweise ist in Afrika Krieg, da führen die Wege aufgrund gewisser Unübersichtlichkeiten bisweilen in verschiedene Richtungen. Als Giuditta ihrer großen Liebe Octavio verlustig gegangen ist, folgt sie dem Vorbild ihrer Mutter und wird Tänzerin („In meinen Adern drin, da rollt das Blut der Tänzerin“, Lied Nr.16), allerdings nicht ganz freiwillig, denn zugleich muss sie als Kurtisane des Lord Barrymore die femme fatale spielen. Wer sich, wie sie, der Not gehorchend begehrlichen Männerblicken aussetzt, ist eher Sklavin als Herrscherin.
Für ihre Collage haben Marthaler und sein Dramaturg Malte Ubenauf viel Text geopfert, dafür den „Sladek“ von Ödön von Horvath integriert und das Musikangebot um zeitgenössische Werke (u.a. von Eisler, Berg, Bartók, Korngold und Schönberg) erweitert. Ob deshalb aus einer Operette eine Oper wurde, ist gegenstandslos, denn die Zeitumstände interessieren die Macher dieser „Giuditta“ mehr als Genregrenzen. Dass Hitler wenige Tage nach der letzten Aufführung des Werkes am 7. März 1938 die Macht in Österreich übernahm und dem damaligen Superstar Richard Tauber (als Octavio) nur knapp die Flucht gelang, erinnert an die ebenso „knappen“ Aufführungen von Operetten jüdischer Komponisten (wie Jaromir Weinberger) kurz vor der Berliner Machtergreifung 1933.
In München schlüpfte der seit Jahren in Bayreuth und andernorts gefeierte Daniel Behle in die Tauber-Rolle und begeisterte einmal mehr mit seiner strahlenden Höhe, deren tenorale Kraft gut gegründet ist. Als er am Ende rollengemäß als Barpianist sein Leben fristet, macht er das gleich selbst. Ein perfekter Tusch! Dieses beklemmende Ende sieht dann die überraschte Giuditta auftauchen, personifiziert durch die famose Vida Miknevi?i?t?, die zwar keine typische Operettenstimme besitzt, dafür aber um so mehr opernhaften Glanz verströmte. Auch Kerstin Avemos Anna ist eine erstklassige Besetzung und begeisterte in ihrem großen Koloraturensolo. In der Solistenriege gab es insgesamt keinerlei Schwachpunkte, schon gar nicht in der musikalischen Leitung des blendend aufgelegten Staatsorchester durch Titus Engel.
Problematisch, ja sogar verstörend, wirken Marthalers choreographische Ideen. Sie fußen auf stereotypischen Bewegungsmustern und deren endlosen Wiederholungen. Kann man sich noch über die Veitstanz-Einlage zweier Befrackter amüsieren (virtuos!), so kommt allmählich Überdruss an den beliebig wirkenden Verrenkungen auf, an denen auch das weibliche Bühnenpersonal alsbald beteiligt wird. Die akrobatische Herumpurzelei wird zwar famos dargeboten, ist aber komplett sinnfrei und hat wohl am Ende auch den Anlass für manche Buhs geliefert. Fazit: eine ungewöhnliche, gewagte, aber sehr originelle „Giuditta“-Collage mit musikalisch exzellentem Niveau.