Glosse

Zwischentöne

Martins Floskeleien

veröffentlicht am 29.11.2022 | Lesezeit: ca. 2 Min. | von Martin Köhl

Wutbürger

Wutbürger, Foto © pixabay.com

Temperantia ist vermutlich jene der vier aus der Antike überlieferten Kardinaltugenden, die am wenigsten beachtet wird. Die Mäßigung kommt ja auch so unspektakulär daher.

Die anderen – Gerechtigkeit, Klugheit und Tapferkeit – wirken so unmittelbar überzeugend, dass jeder und jede sie für erstrebenswert halten wird. Aber sich mäßigen, Maß halten? Da ist man chancenlos an der Aufmerksamkeitsfront.

Eine nuancierte Ausdrucksweise scheint zu einem Zeichen von Schwäche geworden zu sein. Maxim Biller, der rastlose Polemiker, erfand neulich das böse Wort von den „Habermas-Deutschen“. Ausgerechnet Jürgen Habermas diskreditieren, diesen unermüdlichen Kämpfer für den „herrschaftsfreien Diskurs“, für den sachorientierten Austausch, für das aufmerksame Zuhören und das rationale Argumentieren?

Eine binäre Denk- und Redeweise hat sich gnadenlos etabliert, ’pour ou contre’, das reicht, um sich argumentativ einzuordnen. Anstatt Ein- und Widersprüche auszuhalten, suchen viele ein Geisteslager oder eine Meinungspartei auf, in dem längst alle Ansichten unwiderruflich festgezurrt sind. Wer Maß hält, mit Bedacht argumentiert und nach Zwischentönen sucht, geht da schnell unter.

Sind die (a-)sozialen Plattformen, diese Paradiese der Trolle, für die Verflachung der Gesprächskultur verantwortlich? Komplexität, Widersprüchlichkeit oder gar offene Fragen passen den Vereinfachern kaum, den Wutbürgern schon gar nicht. Statt dessen werden die Kontraste geschärft. Auf berechtigte Fragen wird mit moralischer Empörung reagiert, der Rationalität stehen Gefühle gegenüber, Debatten enden im asymmetrischen Streit.

Vielleicht liegt das an der zunehmend kultivierten Überempfindlichkeit jener Menschen, die „unter immer weniger immer mehr zu leiden“ sich einbilden, wie Odo Marquard einmal das „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ charakterisiert hat. Sprachlich hat das Konsequenzen: die Superlative florieren, der Nuancenreichtum erodiert. Auch „Die letzte Generation“ ist so eine ultimative Redewendung, die keine Widerrede toleriert. Zwischentöne unerwünscht!

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