Mixtur

Raus aus dem Hamsterrad

Alle Zeit der Welt“ im tanzSpeicher würzburg

veröffentlicht am 04.08.2014 | Lesezeit: ca. 4 Min.

Wie halten wir es mit der Zeit? Sprichwörtlich geworden ist, nicht nur in der Originalsprache Englisch, Benjamin Franklins Ermahnung aus seiner Schrift „Ratschläge für junge Kaufleute“ (1748): „Time is money.“ Max Weber, 1864 in Erfurt geboren und 1920 in München verstorben, einer der führenden Soziologen und Kulturwissenschaftler, erinnerte in Anlehung an den Calvinismus daran, dass die größte aller Sünden die Zeitverschwendung sei. Und so mancher gestresste Manager oder Theaterintendant unserer Tage wird konstatieren müssen: „Zeit ist Luxus.“

Unter dem Titel „Alle Zeit der Welt“ und dem an Peter Handke erinnernden Zusatz „Eine choreographische Erkundung der Absichtslosigkeit“ ruft die Tanzkompagnie Thomas K. Kopp in einer Produktion des Theaters tanzSpeicher würzburg dazu auf, einmal aus dem Hamsterrad auszusteigen. Die Dramaturgin Brigitte Weinzierl und der Choreograph Thomas K. Kopp wollen damit einen Kontrapunkt zum herrschenden Zeitgeist setzen. Die Aufführung will verstanden sein als ein „Abend voller Angebote“, bei welchem genau jenes en masse vorhanden zu sein scheint, was im Alltagsstress für gemeinhin auf der Strecke bleibt: Zeit.

Nichtmals ein Wellness-Wochenende geht ja heutzutage ohne exakt durchgetaktetes Zeitmanagement ab. Selbst beim eigentlichen Entspannen ist da größtmögliche Effizienz in allem Tun gefragt. Kaum auszudenken, man schaltete beim Sich-Suhlen in der Sole-Therme so sehr ab, dass man zur nachfolgenden Golfstunde auch nur fünf Minuten zu spät käme! Thomas K. Kopp und seine Kompagnie führen choreographisch vor Augen, dass es auch anders geht. Die Würzburger widersetzen sich dem scheinbar ubiquitären Konzept von Rationalisierung, Zeitökonomie und Zeitgewinn.

Selbstverständlich baut Kopp auf die Ausdrucksmittel des zeitgenössischen Tanzes, doch werden auch Musik, Video- und Filmkunst sowie Sprache und Literatur eine Rolle spielen. Mit dem Kompagniechef als kundigem Cicerone und verlässlichem Wegbegleiter will man dem Publikum „Alle Zeit der Welt“ schenken, zumindest einen Abend lang. Den Zuschauern wird ein Freiraum geboten, den sie mit eigenen Geschichten und Erinnerungen füllen können.

Neben Weinzierl (Dramaturgie) und Kopp (Choreographie) ist noch Katharina Lehmann (Assistenz) anzuführen. Und, naturgemäß, das Tanzensemble. Aus Hunderten von Bewerbern hat man in Berlin Vanessa Cokaric, Vasileious Koutras, Sinja Maucher, Judith Nagel und Sergio Verano für die Würzburger Produktion verpflichten können. Allesamt sind sie starke Persönlichkeiten, auch über ihr ureigenes Metier, den technisch perfekten, ausdrucksstarken Tanz, hinaus. Für „Alle Zeit der Welt“ hat sich das Choreographie-Team bei Klassikern wie Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“, wie Jean Jacques Rousseaus „Bekenntnisse“, wie Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 (in Buchform erst sechs Jahre hernach) Anregungen geholt.

Abschließend noch ein kurzer Einwurf zur Historie des Theaters tanzSpeicher würzburg, zu seinen Intentionen, seinem Renommee. Der tanzSpeicher würzburg wurde vor einer Dekade von Thomas K. Kopp ins Leben gerufen. Der Choreograph bringt mit seiner Kompagnie mehrere Eigenproduktionen jährlich heraus. Die Theaterbühne befindet sich im Keller des Kulturspeichers am Alten Hafen. Im ersten Stock betreibt das Theater eine Lobby für die Besucher vor und nach den Aufführungen. Das Festival „Tanzlandschaft – Biennale für zeitgenössischen Tanz“ sowie zahlreiche Gastspiele nationaler und internationaler Kompagnien sorgen zusammen mit den eigenen Produktionen für einen ausgezeichneten Ruf Würzburgs in der Tanzszene. Der tanzSpeicher ist das einzige Theater für zeitgenössischen Tanz in Bayern und hat somit Modellcharakter. Solche Bühnen gibt es hierzulande nur wenige, etwa in Dresden, Wuppertal, Essen, Köln. Würzburg darf sich zweifelsohne glücklich schätzen. Zumindest in Sachen Tanz für hier, für heute.

Copyright Fotos: © Rainer Gräf

Ähnliche Artikel: