Eine gigantische Milchkanne auf den obersten Stufen der berühmten Domtreppe verrät sofort, worum es in Erfurt heuer geht: um Tevje, den Milchmann aus dem kultigen Musical „Anatevka“ von Joseph Stein (Buch) und Jerry Bock (Musik) nach den Geschichten von Scholem Alejchem. Was dieses Stück thematisiert, ist von ewiger Aktualität, denn das Beharren auf Gewohnheiten und das Bedürfnis nach Veränderung widerstreiten sich schon seit langer Zeit und in allen Gesellschaften.
Deshalb wird gleich eingangs das Loblied auf die Tradition gesungen. Es war schon immer so, und wir wollen auch, dass das so bleibt. Für die fünf Töchter des Milchmanns bedeutet das ein Leben im Haushalt und an der Seite eines Mannes, den die Familiensippe für sie ausgesucht hat. Das kann unter Umständen eine Kupplerin sein, die daran auch ein wenig verdient. Gudrun Schade spielt diese dubiose und zugleich aufheiternde Rolle auf packende Weise. Ein erster lustiger Zwischenton in einer Geschichte, die freilich problematisch endet.
Die Etappen bis zum bitteren Ende werden durch die Abkehr von nicht weniger als drei Töchtern von den Familien- und Milieutraditionen des ostjüdischen Dorfes geprägt. Akzeptiert der Familienvater nach einigem Widerstand noch die, der Liebe geschuldeten, Wahl wenig attraktiver, weil armer Schwiegersöhne bei den beiden Ältesten, so ist bei der Dritten Schluss mit der Toleranz bezüglich der Abkehr von der Tradition. Chava hat sich nämlich einen christlichen Ehemann erkoren – ein Unding für die hermetisch abgeriegelte jüdische Welt im vormaligen Galizien.
Regisseur Ulrich Wiggers und Bühnenbildner Leif-Erik Heine haben sich einen Handlungsort ausgedacht bzw. gestaltet, der, wie stets in Erfurt, die ganze Tiefe und Höhe der imposanten Domtreppe ausnutzt. Der unvermeidliche „Fiddler on the Roof“ lotet die Grenzen in der Toplage aus und musiziert bisweilen sogar auf einem exponierten Balkon des Domes. Die hässliche Fassade des vor Severi gelegenen Hauses dient wie immer als Projektionsfläche.
Auf ihr, wie oben aus der Milchkanne, läuft in der Schlussszene eine zähe Flüssigkeit die Stufen herunter – natürlich ist Milch gemeint – und bedeutet dem Publikum, dass die Sache tragisch geendet hat. Anatevka ist von den Russen aufgelöst worden, die Juden werden vertrieben und können womöglich noch froh sein, einem Pogrom entkommen zu sein. Man wird ins Exil gezwungen, sei es nach Amerika oder ins „Gelobte Land“.
Zum Glück versagt sich die Inszenierung von Ulrich Wiggers jegliche Anspielungen auf die Gegenwart, die je nach politischer Überzeugung sehr unterschiedlich aufgenommen werden könnten – es geht ja immerhin um das Thema Vertreibung. Allerdings ist der Ort des Geschehens heikel genug, denn die Geschichte handelt ja von einer Episode jüdischen Lebens in der Ukraine in der Zeit um 1905 und von der Bedrohung einer tradierten Lebensweise.
Gesanglich und darstellerisch überzeugte die bei der Premiere auftretende Besetzung in allen Belangen. Dies galt nicht nur für die Hauptrollen, sondern auch für die kleineren Partien sowie die von Kati Heidebrecht erfundene Choreografie. Die musikalische Leitung des wie stets aus der Ferne des Opernhauses spielenden Orchesters oblag Clemens Fieguth, der mit Stefano Cascioli alterniert. Die Synchronisation der Übertragung erwies sich einmal mehr als perfekt.
Mit spannungsvoller Neugier wartet man bei den DomStufen-Festspielen während des Schlussapplauses auf den Dirigenten, der verlässlich 10 Minuten nach den letzten Klängen per Auto in die Arena braust. Früher geschah das mit deutscher Oberklasse, diesmal fläzte sich ein chinesischer „BYD“ zwischen Publikum und Stufenbühne. Sponsoriale Zeitenwende ist also auch in Erfurt angesagt. Wir werden uns dran gewöhnen müssen, gleich wie der Milchmann, der in „Anatevka“ den Zusammenbruch seiner Lebensweise betrauert.