Schauspiele mit juristischem Hintergrund - oder sagen wir es direkter: Gerichtsdramen - sind zurzeit en vogue. Stücke wie „Terror“ oder „Verbrechen“ von Ferdinand von Schirach sind bundesweit auf den Bühnen zu sehen - und erfolgreich. Da liegt es nahe, auch gleich den nächsten Schritt zu tun und sich an Ort und Stelle zu begeben, mithin in den Gerichtssaal. Genau das macht jetzt das Landestheater Coburg. „Prima Facie“ lautet der Titel jenes Monodramas von Suzie Miller, das am 27. September seine Premiere am bzw. im Landgericht Coburg erleben wird. Darin geht es um die energische Art und Weise, in der die Strafverteidigerin Tessa Ensler Männer vertritt, die wegen mutmaßlicher sexueller Übergriffe angeklagt sind. Sie arbeitet so akribisch im Sinne der Unschuldsvermutung, dass sie äußerst erfolgreich ist. Dann jedoch bricht ihre Welt zusammen, weil sie von einem Kollegen vergewaltigt wird und ahnt, dass nun sie es sein könnte, deren Chancen vor Gericht gering sind. Als sie im Prozess plötzlich auf der ungewohnten Seite der Gerichtsparteien steht, wird ihr klar, dass sie in einem System, an das sie so lange geglaubt hat, kaum Gerechtigkeit erfahren wird.
Kathrin Sievers inszeniert das Stück in Coburg. Sie hat als Dramaturgin und Theaterregisseurin an verschiedenen Häusern gearbeitet, ist Dozentin für Schauspiel im Fach Musical an der Musikhochschule Osnabrück und schreibt Stücke und Stückbearbeitungen. Wir stellten ihr Fragen zu ihren Regievorstellungen bei der Inszenierung von „Prima Facie“ am Coburger Landestheater.
„Monodrama“ ist ein anderes Wort für Einpersonenstück, was „Prima Facie“ ja auch ist. Allerdings springt die Figur während des Stücks in verschiedene Situationen und Dialoge mit anderen Charakteren und interagiert auch mit dem Publikum, so dass man das Stück nicht als Monolog erlebt.
„Prima Facie“ ist ein juristischer Fachterminus und bezeichnet in etwa den Sachverhalt, dass bei bestimmten Fällen, in denen die Beweislage nicht eindeutig ist, „prima facie“, d.h. „nach Anschein der Dinge“ durch das Gericht geurteilt wird. Anstelle eines eindeutigen Beweises tritt eine Art „allgemeine Lebenserfahrung“; bei einer solchen Fallgestaltung müssen die Einzelumstände eines bestimmten Geschehens nicht mehr strikt bewiesen werden, sondern sie werden als typisch angenommen.
„Prima facie“ wird immer noch gern angenommen, dass eine Vergewaltigung unwahrscheinlich ist, wenn im Vorfeld eine (Liebes-)beziehung bestand und es zu sexuellen Handlungen in beiderseitigem Einvernehmen kam. Das ist ein überholtes und patriarchal geprägtes Denkmuster. Bedenken Sie: Der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe existiert in Deutschland juristisch erst seit 1997, ihm gingen heftige Debatten im Parlament voraus und ein zähes Ringen um die damals von der CDU ins Spiel gebrachte Widerspruchsklausel. Diese sollte ermöglichen, das Strafverfahren wieder zu stoppen, sollte die Ehefrau ihre Anzeige zurückziehen. Ob sie das, wie ja wahrscheinlich, unter Druck tun würde, spielte keine Rolle. In Gerichtsprozessen führt das unter Umständen dazu, dass sich die „allgemeine Lebenserfahrung“, mit deren Hilfe geurteilt wird, eher als „allgemeines Vorurteil“ darstellt. Die Frau kann den Tathergang nicht bis ins letzte Detail wiedergeben? Sie verwickelt sich gar in Widersprüche? Alles klar. Das Opfer wird von der Verteidigung zerlegt, der Täter kommt frei. Dass unter einem Schockerlebnis wie einer Vergewaltigung Seele und Gehirn nicht unbedingt normal funktionieren, wird kaum berücksichtigt.
Was die Figur der Tessa Ensler betrifft: Solange sie in diesem patriarchal geprägten System mitspielt, sich als Verteidigerin dieses Verfahrens bedient, ist sie erfolgreich. Sie nimmt die Zeuginnen nach allen Regeln der Kunst auseinander, hält das für ihre Aufgabe und ein gerechtes Verfahren und gewinnt – bis sie sich selber auf der anderen Seite wiederfindet und am eigenen Leib erfährt, dass die zugrunde gelegten Prinzipien des Prozessverfahrens ungenügend sind, um Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Das könnte die Konstellation. Tut sie aber nicht. Das Stück ist einfach sehr gut geschrieben, eben weil es die Protagonistin nicht dazu benutzt, ein bestimmtes politisches Anliegen zu illustrieren. Tessa Ensler lebt bis in jede Pore, man glaubt ihr ihre professionelle Brillanz, ihren rauen Working-Class-Background, ihre Eitelkeiten, ihre Sprödigkeit, ihre Naivität, ihre Abgebrühtheit, ihre Verletztlichkeit.
Das verschmilzt zu einer Einheit. Gesellschaftliche und juristische Problemlagen werden durch die Figur sichtbar, durch ihre Erfahrungen und auch in ihr selbst. Sie ist ja lange Zeit eine hunderprozentige Unterstützerin des Systems.
Ich erlebe sie unmittelbar in den Erfahrungen, die sie macht. Sie ist mir gerade am Anfang absolut unsympathisch; ein eitles Alphatier. Aber mit hohem Entertainment-Faktor. Spätestens, wenn sie nach Hause in ihre Herkunftsfamilie kommt, beginne ich, sie besser zu verstehen und zu schätzen. Es gelingt der Autorin sehr gut, eine vielschichtige Person in einer komplexen Situation zu zeichnen, die keine einfachen Schlüsse zulässt. Vor allem aber gestaltet die Autorin das gesamte Geschehen aus dem Momentum der jeweilig skizzierten Situation. Ständig passiert etwas, man kommt genauso wenig wie die Figur dazu, groß nachzudenken und zu reflektieren, man wird unmittelbar in die Bühnenhandlung hineingeschleudert.