Wer bei dem schon fast zur Regielegende gewordenen Achim Freyer eine Inszenierung bestellt, weiß, dass dann alles aus einer Hand kommt. Dramaturgie, Bühnenbild, Kostümierung, nichts überlässt er dem Zufall. Doch kann er sich dabei auf eingespielte Mitarbeiter wie den langjährigen Kollegen Klaus-Peter Kehr (Dramaturgie), Sebastian Bauer (Co-Regie) oder Moritz Nitsche (Co-Ausstattung) stützen. Das war schon vor ein paar Jahren so bei der Meininger „Zauberflöte“, und das fand jetzt eine begeistert aufgenommene Fortsetzung mit Giuseppe Verdis „Don Carlos“ als Saisoneröffnung.
Gespielt wird eine der späten französischen Fassungen, was naheliegend ist, denn Verdi wartete mit seinem Werk für die Pariser Oper zum Höhepunkt der Entwicklung jener Gattung auf, die das Dezennium von 1860 bis 1870 prägte: der „Grand Opéra“. Da galt es, sich neben Namen wie Auber oder Meyerbeer zu behaupten, von einem schon zuvor in Paris aufgetauchten Richard Wagner ganz zu schweigen. Die großen historischen Stoffe hatten Verdi längst gefangen genommen, und so griff er abermals zu einem Drama Friedrich Schillers als Vorlage.
Darin geht es um Politik ebenso wie um Liebe, deren Verknüpfung in alten dynastischen Zeiten schon immer ein probates Mittel war, um Probleme zu lösen. Das kann allerdings auch schiefgehen. Carlos, der spanische Infant, also Sohn des Königs Philipp II., soll zur Beendigung des französisch-spanischen Krieges mit der Tochter des französischen Königs, Elisabeth, verheiratet werden. Da die beiden sich auf Anhieb mögen, scheint der Plan zu aufzugehen, doch dem König gefällt die Prinzessin ebenfalls, weshalb er sie sich zusprechen lässt. Carlos bleibt nur die Möglichkeit, nach Flandern auszuweichen oder seinen Vater zu ermorden.
Eine Intrigantin würzt die Geschichte: Die Prinzessin Eboli hat sich ebenfalls in Carlos verliebt, doch in einer Verwechslungsszene verrät Carlos seine Liebe zu Elisabeth, was die Eboli zur Weißglut treibt und sie zur Feindin des Infanten macht. Dem bleibt nur noch, das Schwert gegen seinen eigenen Vater zu ziehen. Auch die zur Zeit Philipps II. allmächtige Inquisition kommt vor und drängt zur Rache, doch Carlos’ bester Freund, der Marquis von Posa, nimmt alle Schuld auf sich und wird gerichtet. Carlos sieht Elisabeth noch einmal, doch das Ende bleibt offen.
Achim Freyers Bühnenbild nimmt von der ersten Szene an gefangen. Eine suggestive Lichtregie und hängende Stäbe, die sich bewegen und ständig die Räume verändern, sorgen im Zusammenspiel mit der originellen Kostümierung für faszinierende Eindrücke. Das verrät den Bildenden Künstler Freyer. Die Vielfalt der Kostüme – selbst in den Chorszenen wiederholt sich kein einziges! – spricht für Freyers Sinn für Farben, Proportionen und gedankliche Zuordnungen der Protagonisten. Rätselhaft sind allerdings die abgezirkelten Gesten, deren sich die Sängerdarsteller fast automatenhaft bedienen müssen.
Ein Blick ins Programmheft bringt Aufklärung: Die Gesten sollen das Situative beschreiben und Träume, Wünsche und Aggressionen der handelnden Personen erzählen. Verbunden ist das mit einer für die Personenregie besonderen dramaturgischen Situation, denn die Protagonisten spielen ausschließlich nach vorne und sehen sich nicht an. Ob man das allerdings als „Schock für die Theaterwelt“ ansehen kann, wie Freyer schreibt, ist fraglich, denn diese dramaturgische Maßnahme hat durchaus prominente Vorläufer.
Die Inszenierung arbeitet in Anlehnung an die Akteinteilung mit Überschriften wie ’Freiheit’, ’Morgengrauen’, ’Fest’, ’Heiterer Ort’ etc. Dass für den Großinquisitor und seine Machenschaften bald Schluss sein wird, deuten dessen Gebrechlichkeit und jämmerliches Aussehen an. Und doch, als während des Festes Parolen wie ’Freiheit’, ’Friede’, ’Recht’ und sogar ’Love’ gerufen werden, knien alle nochmals nieder beim Erscheinen des Inquisitors. Das darauf folgende lange Solo der Elisabeth (Dara Hobbs) gerät zu einem der Höhepunkte des Abends. Zum überraschenden Ende mutiert ein Mönch zu dem eigentlich nicht vorgesehenen Kaiser Karl V. und lässt als eine Art Deus ex machina die ewiggestrigen Strippenzieher wie den König und den Großinquisitor verstummen.
In musikalischer Hinsicht ist dieser Premierenabend geradezu exquisit, und das nicht nur wegen des von GMD Killian Farrell verdiaffin geleiteten Orchesters, also der Meininger Hofkapelle. Matthew Vickers macht aus dem zögerlichen Carlos richtigerweise keinen Heldentenor, Selcuk Hakan Tirasoglu aus dem König Philippe ebenso wenig einen auftrumpfenden Herrscher und Mark Hightower markiert den Großinquisitor als künftigen Looser. Marianne Schechtel reißt mit ihrer dramatischen Eboli zu Begeisterungsstürmen hin, gleich wie Shin Taniguchi als dynamischer Marquis von Posa. Eine kapitale Saisoneröffnung!