Es wirkt wie eine Befreiung, was das Theater Erfurt zum Saisonauftakt als neue Operninszenierung präsentierte, denn nach den schwierigen Zeiten, die das Theater hinter sich hat, sind Erfolge höchst willkommen. Stephan Witzlinger führte die Regie in Giacomo Puccinis „Tosca“, dem unverwüstlichen Evergreen des Musiktheaters, in einer solch überzeugenden Weise, dass der Schlussapplaus des Premierenpublikums sich fast zu Ovationen steigerte.
Er hat sich mit Bühnenbildner Hank Irwin Kittel eine Szenerie ausgedacht, die an Klarheit und Eindeutigkeit kaum zu übertreffen ist, aber auch eine Überraschung bereithält. Auf der runden Drehbühne ist quasi ein zweites Auditorium installiert, das fast hundert Zuschauenden Platz bietet, wohlgemerkt keine Attrappen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Ob dieses Privileg einer besonderen Perspektive die betreffenden Besucherinnen und Besuchern einen höheren Obulus gekostet hat, wissen wir nicht, jedenfalls bot es die Chance, sowohl von Nahem auf die Bühne als auch gleichzeitig auf das entferntere „normale“ Publikum schauen zu können.
Auf das geradezu absurde Maß an Grauen und Grausamkeit, das von den Librettisten Illica und Giacosa (nach Sardou) für die „Tosca“-Komposition aufgeboten wurde, weist schon die Eingangsszene hin, denn da wird gleich mal eine Leiche auf die Bühne gezerrt und spektakulär kopfunter aufgehängt. Übrigens hat die Achtsamkeitswelle mittlerweile auch die thüringische Hauptstadt erreicht, denn das Publikum wird schon auf der Homepage darauf hingewiesen, dass „Informationen zu sensiblen Themen, Inhalten und sensorischen Reizen in der Inszenierung“ genau dort zu finden sind. Vor einer „Tosca“ sollte man empfindliche Gemüter sowieso und überall warnen, denn ohne Folter, Scheinrichtung, tatsächliche Hinrichtung und finalen Todessturz geht da nichts. Wenn nur die Musik nicht so phantastisch wäre …
Stephan Witzlinger rückt das Hauptmotiv des Geschehens, die sexuelle Begierde – oder besser: die Gier – des römischen Polizeichefs Scarpia, in die Gegenwart, wenn er dessen Worte „Tosca, du lässt mich Gott vergessen“ in die Kirche verlegt und damit aktuelles Missbrauchsgeschehen zumindest assoziiert. Scarpia interessiert nicht die freiwillige Hingabe, sondern nur die gewaltsame Eroberung – auch das ist ja leider ewig aktuell. Máté Sólyom-Nagy verkörpert diese anspruchsvolle Rolle, diese Personifizierung eines Unrechts- und Unterdrückungssystems, sängerisch wie darstellerisch in idealer Weise.
Claire Rutter ist als Tosca ebenfalls sehr bühnenpräsent, überzeugt mit ihrem kraftvollen Sopran, der allerdings mit einer etwas zu hohen Dosis an scharfem Vibrato ausgestattet ist. Ihr gelangen große Augenblicke in Arien wie „Nur der Schönheit weiht’ ich mein Leben“. Mario Cavaradossi wird von Jérémie Schütz verkörpert. Sein dramatischer Tenor lässt „die Sterne blitzen“, schauspielerisch ist er sehr dominant. Auch die Rollen von Cesare Angelotti, dem politisch Verfolgten, und dem hinkenden Küster sind trefflich besetzt.
Musikalisch kommt aus dem Orchestergraben bester Puccini-Sound, aber es sind auch dynamische Zuspitzungen zu hören, die bisweilen einige Dezibel zu weit gehen. Dass quasi zeitgleich zur Saisoneröffnung das Finale der Suche nach einem neuen Generalmusikdirektor stattfindet, verleiht diesem Opernauftakt besondere Spannung. Bald wird man es wissen und sich auf weitere Höhepunkte im Erfurter Musiktheaterbereich freuen dürfen, und das unter dem Saisonmotto „Gemeinsam sind Sie mittendrin statt nur dabei“.