Fronturlaub im Zauberreich
Jens-Daniel Herzog setzt Georg Friedrich Händels „Alcina“ am Staatstheater Nürnberg originell in Szene
veröffentlicht am 18.03.2025 | Lesezeit: ca. 5 Min. | von Martin Köhl

Staatstheater Nürnberg, Oper „Alcina“, Oper von Georg Friedrich Händel, Musikalische Leitung: Dorothee Oberlinger, Regie: Jens-Daniel Herzog, Premiere: 16.03.2025, Im Bild: Julia Grüter und Tanzensemble, Foto © Ludwig Olah
Zwischenkriegszeit ist immer. Auch in Nürnbergs neuer Inszenierung von Georg Friedrich Händels „Alcina“ ist das so, denn da taumeln, kaum ist der Lappen oben, entkräftete Soldaten aus dem gefängnishaften Bühnenhintergrund. Wir sind also vor oder nach einem Krieg, zeitgleich sowieso, denn es geht stets bellizistisch zu auf diesem Planeten, ein aktueller Blick nach Osten genügt.
Mit dem Auftritt der Schwester von Alcina, der Protagonistin des Plots, geht's mittenmang hinein in eine Geschichte, die wir hier erst gar nicht zu erzählen versuchen, weil die Verbandelungen liebeshalber oder familiär bedingt verwirrend sind. Das ist in der Barockoper immer so – man will ja einen langen Abend unterhalten werden. An der Nürnberger Staatsoper dauert der gut drei Stunden, aber dank der Ideenvielfalt des Regieteams langweilt man sich keine Minute.
Das liegt vor allem daran, dass man der Routine barocken Rampentheaters keinerlei Chance lässt, sondern die Abfolge der Arien mit den immer gleichen stereotypischen Affekten unterfüttert mit sinnstiftenden Regieeinfällen, zu denen auch die Einbeziehung von sechs Tänzern gehört. Und natürlich das virtuose Spiel mit Identitäten, angefangen mit der Hosenrolle von Ruggiero, dem von Alcina vergötterten Ex-Soldaten, der von Corinna Scheurle sängerdarstellerisch famos gespielt wird.
Augenzwinkernde Details befördern die chronische Doppelbödigkeit der Geschichte, so das Outfit Ruggieros, der bzw. die in einer Saunaszene Brusthaar zeigt und im übrigen geradezu demonstrativ ein Gemächte vor sich her trägt. Sicher ist sicher, der scheinkoitalen Bemühungen um Alcina hätte es gar nicht bedurft, um aus der Frau einen Mann zu machen. Wenn später Frauenhände absichtlich Taschentücher fallen lassen, weiß man um die klischeehafte Botschaft.
Aber eigentlich geht es hier um ernsthafte Dinge, die doch sehr an die Venusfalle in Wagners „Lohengrin“ erinnern. Ein eigentlich standhafter Mann, der noch einiges zu vollbringen hätte – heute würde man sagen: Der eine Mission hat – gerät in den Anziehungsbereich einer Zauberkönigin und vergisst seine Pflichten, die, um im Bilde zu bleiben, eher mit Landesverteidigung als mit sorglosem Lustleben zu tun haben.
Aus dem Fronturlaub wird also ein Wellnessbad. Alcinas Zauberreich öffnet sich unter dem Motto „Hier macht das Vergnügen die Männer zu Helden“. Da wieder herauszukommen ist nicht so einfach, schon der Tannhäuser hatte seine Mühe damit. Aber paradiesische Zustände haben auch ihre Tücken, deren ärgerlichste die pure Langeweile ist. Und so geht es über zwei lange Akte hinweg um den Verlust erotischer Macht.
Der Weg zurück in die Realität – und das heißt angesichts der Inszenierungsidee: ins Soldatenleben – ist nicht einfach, zumal er von allerlei Familienzwist begleitet wird, inklusive der ziemlich ernüchternden Feststellung „Wer dich liebt, hat Pech“. Das sagt Bradamante, die eigentliche Gefährtin Ruggieros, und der antwortet mit einer bezaubernden Seufzerarie.
Rachegeister sind das letzte Aufgebot Alcinas, Rachearien sowieso, und wenn sich das Tor zur Scheinwelt geschlossen hat, wandelt sie in einem bürgerlich-banalen Geviert umher. Zu ihrem Tränengesang kommt das ganze Personal auf den Hof, die Abrechnung ist fällig; allmählich wachen alle aus der Verzauberung auf, Menschwerdung ist angesagt, und die hat in der Realität auch oft genug mit der Frage Krieg oder Frieden zu tun.
Der Zwischenkriegshintergrund der Inszenierung ließe sich mit Recht als ein wenig aufgesetzt beurteilen, doch die Idee wird von Jens-Daniel Herzog und seinem Team (Bühne: Mathis Neidhardt, Kostüme: Sibylle Gädeke, Dramaturgie: Hans-Peter Frings und Georg Holzer) so konsequent durchdekliniert, dass sie schlüssig wirkt. Und unterhaltsam ist das sowieso, weil es mannigfaltige Gelegenheiten für Bühnenaktivitäten bietet. Wie entfesselt Martin Platz beispielsweise durch das Stück tobt, das hat was. Freilich führt das bisweilen zu einem Overkill an Bewegung, denn ständig muss geturnt, gestritten, genestelt oder sonstwas werden.
Auch in musikalischer Hinsicht ist diese Nürnberger „Alcina“, die in Zusammenarbeit mit dem Bonner Theater entstanden ist, ein Statement. Wer zuvor die Münchner „Alcina“ gesehen hat, weiß, was man an Nürnberg hat. Dass die Besetzung fast ausschließlich aus den eigenen Reihen des Staatstheaters erfolgen konnte, will was heißen, denn barocke Sing- und Musizierweisen so überzeugend zu realisieren, wenn anderntags vielleicht wieder Puccini oder Meyerbeer auf dem Plan stehen, das muss gekonnt sein.
Daran hatte die famose Blockflötistin Dorothee Oberlinger großen Anteil, denn sie gab der Aufführung als Dirigentin mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung entscheidende Impulse. Pure Freude zeitigte der Gesang. Gleich in der ersten Arie der Morgana bestätigt sich, was man in Nürnberg an Chloë Morgan hat, die mit ihrem klaren und hellen Sopran schlichtweg begeistert. Ebenbürtig ist die Alcina von Julia Grüter, die von schneidender Klarheit in der Höhe ist und in den mittleren Lagen auch mit Wärme aufwartet.
Sara Šetar glänzt in der eher undankbaren Rolle der Bradamante, Veronika Loy nicht weniger als Oberto, und Demian Matushevskyi steuert für Melisso seine profunde Stimme bei. Allen gemeinsam ist der völlige Verzicht auf Vibratoexzesse, wie angenehm! Fazit: Diese „Alcina“ ist ein Erlebnis.