Klassiker

Ob Kanon oder Wettbewerb: Bach und Pachelbel für alle!

Die 64. Internationale Orgelwoche Nürnberg

veröffentlicht am 19.06.2015 | Lesezeit: ca. 5 Min.

Musica Sacra adé? Wer den Wandel der Internationalen Orgelwoche Nürnberg in den letzten Jahren verfolgt hat, könnte diesen Eindruck gewinnen oder gar bestätigen, zumal seit der Berliner Konzeptkünstler Folkert Uhde die Intendanz übernommen hat. Gleichwohl steht die Musica Sacra noch im Untertitel des Programmheftes und besetzt auch nach wie vor die Schwerpunkte des Festivals. Aber dessen Verkopfung schreitet unaufhörlich voran: ‚Freiheit’ lautet diesmal die zu Grunde liegende Leitidee, und sie wird ziemlich konsequent durchkonjugiert. Das Eröffnungskonzert beispielsweise wäre früher mit dem Titel „Johannespassion“ ausreichend bezeichnet gewesen, denn alle Melomanen wissen, worauf sie sich da einlassen. Unter Uhde wird daraus ein Projekt mit der Überschrift „Unsere Freiheit – Bach aus der Wir-Perspektive“ und schließt ein Raumkonzept und eine Regie (von Uhde selbst) ein. O-Ton Programmheft: „Das Eröffnungskonzert lädt zu einer außergewöhnlichen Konzert-Perspektive auf Bachs Meisterwerk ein: Chor und Solisten sind Teil des Publikums und reflektieren stellvertretend das Geschehen. In der Mitte der Lorenzkirche entsteht ein Spannungsfeld, in dem die zentralen menschlichen Konflikte und Fragen nach Schuld, Verantwortung, Wahrheit, Glauben und Freiheit verhandelt werden“. Nun ja, auf die Einlösung dieses Anspruchs sind wir gespannt. Eines aber ist sicher: wenn das Concerto Köln und der Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung Peter Dijkstras musizieren, wird man sich auf ein kaum überbietbares Niveau freuen dürfen.

Andere Konzertslogans lauten „Dem lieben Gott“ (so Anton Bruckner über den Widmungsträger seiner 9. Symphonie), „Freiheit des Übergangs“ (gemeint ist jener zwischen Gotik und Renaissance), „Tod und Verklärung“ (Ligeti, Strauss und Schubert mit den Bamberger Symphonikern) oder „sounds & clouds“. Das letztgenannte Konzert ist ein Projekt, das unter dem Motto „Ordnung und Freiheit in Natur und Musik“ einen sicht-, fühl- und hörbaren „Garten“ schaffen soll, der von Musikern bevölkert wird. Das musikalische Spektrum reicht laut der Programmmacher „von einer Klanginstallation toskanischer Vogelstimmen über Vivaldis mitreißende Naturbeschreibungen und Toshio Hosokawas zeitgenössisch-stille Kontemplation bis hin zu einem Lounge-Remix“ (an den sich übrigens nach der zweiten Vorstellung die 3. ION-Party anschließt).

Natürlich gibt es auch wieder eine ION-Nacht, bei der die Nürnberger Innenstadt einen ganzen Abend lang bespielt wird. Stummfilm und Orgelimprovisation, gotische Musik, Bach und Neue Musik sind neben vielem anderen zu erleben. Völlig undenkbar ist jedoch eine ION ohne den musikalischen Lokalmatador der Noris, Johann Pachelbel. Der weiland Titularius an St. Sebald war schon immer omnipräsent, und das nicht nur aufgrund des nach ihm benannten, höchst renommierten ION-Orgelwettbewerbs. Sein Evergreen, der berühmte „Kanon“, gibt den Anlass für ‚Pop-up-Konzerte’ unter dem Schlachtruf „Pachelbel für Alle!“. Auch hier handelt es sich natürlich wieder um ein Projekt, und zwar eines, das als Hommage an den großen Nürnberger Komponisten „den Stadtraum als Konzertort“ erschließen soll, speziell die zentral gelegenen Konsumtempel. Ob’s die Umsätze fördern wird?

Auch beim Johann-Pachelbel-Orgelwettbewerb, einem Filetstück jeder ION, gibt es Neues zu vermelden, obwohl natürlich die Regularien derart prominenter Wettbewerbe keine substantielle Aufweichung vertragen. Bei diesem Wettbewerb mit internationalem Anspruch durchzukommen, und sei es auch nur bis zur zweiten Runde, setzt schon großes Können voraus, da gibt es kein Pardon. Das Leitungsteam der ION unter Christoph Bossert, dem Vorsitzenden der Jury, hat sich entschlossen, der künstlerischen Präsentation vor Publikum den Vorzug zu geben und damit die bisher gewahrte Anonymität aufzugeben. Von Anfang an präsentieren sich also die zwölf ausgewählten Wettbewerbsteilnehmer öffentlich vor Publikum „in verschiedenen Konzertkontexten“. Der Berliner Musikwissenschaftler, Rundfunkjournalist und Orgelfachmann Bernhard Schrammek verfolgt den Wettbewerb mit der Zuhörerschaft und moderiert täglich ein Publikumsgespräch sowie die Finalrunde um die Platzierungen beim Johann-Pachelbel-Preis.

Trotz gewisser Säkularisierungstendenzen gibt es für die eingangs geäußerte Befürchtung, die ION könne sich klammheimlich aus ihrem Stammgebiet – also der Musica Sacra – stehlen, wenig Anlass. Nach wie vor ist die kirchliche Prägung vorherrschend, was nicht zuletzt auch durch geistliche Chormusiken, Gottesdienste, Orgel-Mittagskonzerte, das Programm „Orgel zum Anfassen“ und diverse „Klangproben“ in den verschiedenen Innenstadtkichen gewährleistet wird. Die 64. Internationale Orgelwoche Nürnberg beginnt am Freitag, 19. Juni und endet am Sonntag, 28. Juni. Näheres unter www.ion-musica-sacra.de.


Copyright Fotos:

Folkert Uhde, Model Lorenzkirche, © Anne Hornemann

Letizia Renzini, © Valentina Gnesutta

Bamberger Symphoniker, © Michael Trippel

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