Ein Hasardeur und Pikaro auf der vergeblichen Suche nach dem Ich
Sibylle Broll-Pape wagt sich gegen Ende ihrer Bamberger Intendanz an Henrik Ibsens „Peer Gynt“ – und gewinnt
veröffentlicht am 02.05.2025 | Lesezeit: ca. 5 Min. | von Martin Köhl

Szenenbild „Peer Gynt“, v.li. Barbara Wurster, Florian Walter, Stephan Ullrich, Alina Rank, Foto © Birgit Hupfeld
Fällt der Name „Peer Gynt“, so stellen sich auch bei den Nichtlesern von Henrik Ibsens Versdrama eher unpassende Assoziationen ein. Die Einen denken an den fatalen „Faust des Nordens“-Vergleich, die Anderen an Edvard Griegs süffige Musik, die das Stück unrettbar weichgespült hat. Wenn die sehenswerte Inszenierung des ETA Hoffmann Theaters, die als letztes Werk der Noch-Hausherrin Sibylle Broll-Pape auf die Bretter kam, mit einer Endlosschleife des berühmten Solveig-Liedes ausklingt, dann schmeckt das ein wenig nach ironischer Distanz.
Und wie steht es mit dem Anspruch des Faustischen? Ibsen gibt selbst die Antwort, wenn er den Schluss von Faust II abändert. Es macht nämlich einen gewaltigen Unterschied, ob uns das Weibliche „anzieht“ oder „hinanzieht“. Peer Gynt ist von Anfang ein Prahlhans und Lügenbold, der bald merkt, dass es vorteilhaft sein kann, wenn man die vertrauten Gebiete, in denen der Ruf längst ruiniert ist, verlässt und sich pikaresken Abenteuern widmet. Faust hingegen hatte erst einmal ordentlich studiert („Habe nun, ach ...“) und strebte nach Erkenntnis.
Nach einem verwaschenen und verwackelten Backstage-Video beginnt die Inszenierung mit einer Ode an die Lüge, zu der augenzwinkernd auch Bettina Ostermeiers Fake-Klavierspiel mit Grieg und Bach gehört. Die mit dem Bericht von der Bocksjagd im Hochgebirge anhebende Lügenlawine – hinreißend gespielt von Mark Egert – lässt ahnen, dass es ein weites Feld ist zwischen dem dreisten und systematischen Lügen und einer charmanten Gelegenheitsschwindelei. Peer Gynt, der Hasardeur, hat sich chronisch für die erstgenannte Variante entschieden und zieht es bald vor, sich als Pikaro den Folgen zu entziehen.
Und nun werden sie erzählt, die Episoden dieses unsteten Lebens, das mit einem Brautraub beginnt und alsbald in das Reich der Trolle führt. Poppig-skurril sehen sie aus, diese nordischen Fabelwesen, aber auch ausreichend hässlich. Trixy Royeck (Bühne und Kostüme) hat das köstlich gemacht. Die Szene wirkt wie das unterhaltsame Scherzo einer Symphonie, aber mit der Leichtigkeit ist es bald vorbei, denn Peer muss mit dem „Großen Krummen“ ringen und wird vom „Dovre-Alten“ mit dem angeblich mit dessen Tochter gezeugten, alptraumhaften Nachwuchs konfrontiert.
Florian Walter mimt den hässlichen Jungen als Riesenbaby und murmelt erbarmungswürdig „Papa“. Das Exil war schon immer eine kommode Alternative zum Zahlen von Alimenten, weshalb Peer, nachdem er noch ein paar Erinnerungen mit seiner zunehmend jeglicher Illusionen beraubten Mutter (Barbara Wurster) ausgetauscht hat, ins sichtlich noch kolonial markierte Marokko abdampft. Dort will er noch immer nichts weniger als Kaiser werden, sitzt aber da, mit einem Fez auf dem Kopf und philosophiert über das Menschsein.
Dabei reicht es zur tröstlichen Erkenntnis, dass prophetisch reden nicht lügen bedeute. Weiter geht's nach Osten, wo er in Ägypten zum Kaiser eines Irrenhauses avanciert, auf den zur Sphinx mutierten „Krummen“ trifft und sich wollüstig mit Anitra einlassen darf. Doch irgendwann ruft die Heimat, wo man sich längst fragt, was aus dem missratenen Peer geworden ist. Nach einer Schiffsfahrt an die norwegische Küste inklusive einer maritimen Notlage kommt es zum Endspiel, und das hat durchaus faustische Züge.
Ein gewisser „Knopfgießer“ will Peer auf der Suche nach dem Sitz der Träume sezieren. Der „Magere“ alias Mephistopheles nimmt Peer die Hoffnung auf das Fegefeuer, nachdem die Hölle, die nichts für Durchschnittsmenschen ist, sowieso kaum in Frage kommen kann. Nun droht dem Protagonisten das Verschwinden im Brei der Masse. Dabei wollte er doch nur sein „Trollsein“ loswerden und seine Identität klären. Die Frage nach dem Ich muss unbeantwortet bleiben, aber der ewige Topos von der Erlösung durch das Weib funktioniert auch hier verlässlich: Solveig ist noch da und gewährt Verzeihung, musikalisch sanktioniert durch das leise verklingende Wiegenlied.
Sibylle Broll-Pape hat es mit ihrem Team geschafft, ein schwierig zu zähmendes Werk gelungen zu inszenieren. Fast drei Stunden Dauer, aber keinerlei Langeweile! Einmal mehr liegt das an der wichtigsten Tugend der ETA-Truppe: Sie konterkarieren ihr Handicap der mangelnden Zahl durch eine beeindruckende Variabilität, wenn sie in unterschiedlichste Rollen schlüpfen müssen. Von den alten Routiniers wie Florian Walter und Stephan Ullrich kann man das sowieso erwarten, aber was die vulkanische Alina Rank an exzessiv-exzentrischen Wendungen hinbekommt, verdient Sonderlob.
Bettina Ostermeier, gestraft durch Edvard Griegs seichte Pflichtmusik, hatte es diesmal schwerer, zu ihrer üblichen Originalität zu finden. Doch schon zu Beginn versuchte sie, sich durch die Beimischung von Jazz-Elementen davon zu befreien. Trixy Royecks leicht abgestufte Bühne besaß mit einem riesigen Pinsel nur ein festes Element und vertraute im Übrigen auf die ideenreichen Bildfindungen im Hintergrund. Bleibt noch die zwangsläufig dominante Rolle von Marek Egert zu würdigen, der an diesem Abend nur ein einziges Mal in andere Kleider schlüpfen muss. Sein Peer ist eine Wucht – welch famose tour de force!