Jeremias Gotthelf: „Der Geltstag“
Wenn das Geld den Sonntag frisst
veröffentlicht am 16.10.2025 | Lesezeit: ca. 3 Min. | von Ludwig Märthesheimer
Es ist ein unscheinbares Wort, das den Ton des ganzen Romans trägt: „Geltstag“. Im Berner Dialekt meint es den Tag, an dem Besitz unter den Hammer kommt – Inventar, Haus, Hof, Lebenswerk. Jeremias Gotthelf, der Chronist des ländlichen 19. Jahrhunderts, macht daraus weit mehr als einen juristischen Termin. Er verwandelt den „Geltstag“ in ein Schreckensfest des Fortschritts, in eine Parabel über Gier, Leichtsinn und den Preis vermeintlicher Modernität.
Im Mittelpunkt stehen die Wirtsleute Eisi und Steffen, deren Gasthaus „Zur Gnepfi“ zunächst ein Ort des Frohsinns scheint. Doch der frische Wind, den die „neue Mode“ in Wirtschaft und Bildung bringt, entpuppt sich als Sturm. Steffen verschuldet sich, weil er glaubt, mit Glanz und Zierde Gäste zu locken. Eisi folgt ihm, gefangen in einer Spirale aus gesellschaftlichem Ehrgeiz und wirtschaftlicher Verblendung. Die Leserschaft weiß früh, dass es kein gutes Ende nehmen wird – und doch bleibt er gebannt, weil Gotthelf das Unheil mit der geduldigen Präzision eines Dorfchronisten entfaltet.
Gotthelf schreibt, wie er predigt: mit Herz, Humor und einer deutlichen Neigung zur moralischen Mahnung. Er stellt nicht nur das Scheitern zweier Menschen dar, sondern das Versagen einer Gemeinschaft, die sich von den Rufen der Zeit blenden lässt. Hinter den liebevoll gezeichneten Alltagsszenen lauert stets der Abgrund: das leise Umschlagen von Wohlstand in Schulden, von Geselligkeit in Gerede, von Freiheit in Zwang.
Feuilletonistisch betrachtet ist „Der Geltstag“ ein Werk, das heute fast modern wirkt. In einer Welt, die Konsum zur Tugend erklärt, klingt Gotthelfs Skepsis wie ein fernes, aber erstaunlich vertrautes Echo. Dass er seinen Figuren keine glatten Erlösungen schenkt, sondern sie dem erbarmungslosen Rhythmus von Markt und Moral ausliefert, verleiht dem Text eine Härte, die fern von volkstümlicher Behäbigkeit ist.
Wer „Der Geltstag“ liest, betritt eine Welt, in der der Wert der Dinge nicht auf Preisschildern steht – und in der doch alles käuflich scheint. Gotthelf zwingt uns, hinzusehen, wenn das Geld den Sonntag frisst.
Jeremias Gotthelf: Der Geltstag. Roman, Diogenes Verlag Zürich, 2025, Hardcover, 502 Seiten (inkl. Nachwort von Alex Capus und Anhang), 34 Euro. ISBN: 978-3-257-07324-9.