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Talente für den Klang von morgen

Ellen Deger und Prof. Lucius A. Hemmer über die professionelle Realität im Orchesterbetrieb

veröffentlicht am 27.11.2025 | Lesezeit: ca. 11 Min. | von Martin Köhl

Die Nürnberger Symphoniker

Die Nürnberger Symphoniker, Foto © Torsten Hönig

Wer zu den treuen Gästen in symphonischen Konzerten oder in Opernaufführungen gehört, kennt das: Stets zu Saisonbeginn sieht man neue Gesichter im Orchester oder vermisst vertraute, die man schon seit Jahrzehnten zu kennen schien. Fluktuation nennt man das, also etwas ganz Normales auch an ganz anderen Arbeitsplätzen. Mit dem Unterschied freilich, dass man nicht überall so exponiert „zur Schau gestellt“ wird wie auf einem Podium. Wer über einen langen Zeitraum vorne in den Geigen sitzt, mutiert irgendwann zu einem stadtbekannten Gesicht, ob's ihm/ihr gefällt oder nicht.

Allerdings sind symphonische Arbeitsplätze in dieser Hinsicht nicht alle gleich. In einem Opernorchester darf es ruhig ein wenig anonymer zugehen, denn das Orchester sitzt im Graben und ist daher neugierigen Blicken weitgehend entzogen. Im Nürnberger Opernhaus muss man schon weit vorne auf den Seitenemporen sitzen, um die Musikerinnen und Musiker werkeln zu sehen. Das hat übrigens auch Konsequenzen für das textile Habit: Auf der Bühne ist die Uniformierung Pflicht, während es vor der Bühne mancherorts etwas lockerer zugehen darf. Paradebeispiel ist Bayreuth: Wer einmal den Bühnenauftritt des Festspielorchester am Ende einer Aufführung erlebt hat, weiß um die kunterbunte Sommerkleidung der Orchestermitglieder, die zuvor in der Tiefe des berüchtigten Grabens vier oder mehr Stunden geschwitzt hatten.

In der Noris gibt es zwei große symphonische Klangkörper: die Nürnberger Symphoniker und das Philharmonische Orchester des Staatstheaters. Letzteres ist vor wenigen Jahren mitsamt des Theaters unter staatliche Obhut gekommen, wird also vom Freistaat finanziert. Die Symphoniker, 1946 als „Fränkisches Landesorchester“ gegründet, sind ein privates, gemeinnütziges Orchester, das vom Freistaat, von der Stadt Nürnberg und vom Bezirk Mittelfranken gefördert wird und überdies mit der Sparkasse Nürnberg einen Hauptsponsor besitzt. Dass auch die Nürnberger Hochschule für Musik ein (studentisches) Sinfonieorchester besitzt, soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Die Hauptaufgabe des Philharmonischen Orchesters ist naheliegenderweise das Opernfach. Dies alleine reicht schon fast für eine weitgehende Auslastung, doch darüber hinaus bietet die Staatsphilharmonie auch eine Reihe Philharmonischer Konzerte in der Meistersingerhalle sowie eine Kammerkonzertreihe im Jugendstilfoyer des Opernhauses an. Das Engagement im Nachwuchsbereich äußert sich u.a. in den Kinder-, Jugend- und Schulkonzerten und in der 2022 gegründeten Jungen Staatsphilharmonie, dem hauseigenen Jugendorchester. Das Orchester verfügt über 93 Planstellen und ist nach der Tarifkategorie A eingestuft. Es ist das zweitgrößte Opernorchester Bayerns. Derzeitiger Generalmusikdirektor und damit auch Chefdirigent ist Roland Böer.

Die Nürnberger Symphoniker hingegen gelten als reines Konzertorchester, das neben den regelmäßigen Auftritten in der Meistersingerhalle auch an oratorischen Projekten mitwirkt, Höreinspielungen absolviert oder Konzertreisen unternimmt. Das besondere Engagement für jüngere Menschen drückt sich in Formaten wie den „Mittendrin-Konzerten“, „Symphoniker im Klassenzimmer“ oder „U-TURN / das Orchestival“ aus. Innerhalb des Tarifsystems für Kulturorchester sind die Nürnberger Symphoniker, die über ca. 60 Planstellen verfügen, nach Tarifkategorie B eingestuft. Derzeitiger Chefdirigent ist Jonathan Darlington.

Wie organisieren diese beiden Orchester nun die Akquisition neuer Kräfte, wenn die „alten“ aus den verschiedensten Gründen – Ruhestand, Weggang, Krankheit, Berufswechsel o.ä. – abhanden kommen? Art. 5|III hat sich angeschaut, wie diese Prozesse organisiert werden, welche Rolle die Nachwuchsakademien spielen und wie die Auswahl von hochqualifizierten Musiker:innen heute funktioniert. Rede und Antwort stehen Ellen Deger (nachfolgend: ED), die Orchesterdirektorin der Staatsphilharmonie Nürnberg, und Prof. Lucius A. Hemmer (nachfolgend: LH), der Intendanten der Nürnberger Symphoniker.

Wie groß ist die Fluktuation in einem Symphonieorchester von Saison zu Saison?

LH: Bei uns beginnen in jeder Saison etwa 5-10 Personen ihre Tätigkeit.

Was sind die häufigsten Gründe für die Fluktuation?

ED: Ruhestand.

LH: Die Gründe, warum neue Orchestermitglieder ihre Arbeit aufnehmen, sind sehr vielfältig. Häufige Gründe sind: Nachfolge wegen Renteneintritts oder Stellenwechsels des Vorgängers zu einem anderen Orchester. Wegen der Parität von Männern und Frauen in den Beschäftigtenzahlen gibt es zunehmend befristet Beschäftigte als Vertretung während der Elternzeit, aber auch wegen Brückenteilzeit oder Sabbatjahren. Zudem betreiben die Nürnberger Symphoniker eine Akademie, die grundsätzlich auf eine kurze Verweildauer ausgerichtet ist und daher ständige Nachbesetzungen verlangt. Leider waren zuletzt auch Nachbesetzungen wegen überraschender Todesfälle nötig. Kündigungen von Seiten des Arbeitgebers finden in der Regel nicht statt.

Am Anfang potenzieller Bewerbungen steht vermutlich eine Stellenausschreibung in der Zeitschrift „Das Orchester“. Was hat es mit der Plattform muvac auf sich? Und wo können symphonische Aspiranten Angebote von vakanten Stellen in deutschen Symphonieorchestern sonst noch finden?

LH: In der Zeitschrift „Das Orchester“, die der Gewerkschaft gehört, werden seit Jahren keine Stellen mehr ausgeschrieben. Die analoge Form kann man getrost als „outdated“ bezeichnen. Alle Vakanzen werden online bei muvac ausgeschrieben und über diese Plattform abgewickelt.

ED: Über das Portal muvac wickeln wir alle Ausschreibungen ab. Das Tool ermöglicht eine hervorragende Organisation des gesamten Bewerbungs- und Probespielprozesses und ist das erste Tool zum Veröffentlichen von Orchesterstellen.

Welche Rolle spielt der eigene Orchesternachwuchs, also Akademist:innen etc.?

ED: Die Akademie der Staatsphilharmonie Nürnberg ist eine Erfolgsgeschichte. Absolvent:innen gewinnen regelmäßig Stellen in großen Orchestern, sowie auch im „eigenen“ Orchester, also der Staatsphilharmonie Nürnberg.

LH: Die eigene Akademie, die seit knapp 15 Jahren besteht, ist ein Erfolgsmodell. Viele aktuelle Mitglieder konnten über diesen Weg weitergebildet und für das eigene Ensemble akquiriert werden. Viele ehemalige Mitglieder der Akademie spielen heute in Spitzenorchestern wie den Berliner oder Wiener Philharmonikern.

Zieht es die Jobsuchenden vornehmlich in die großen Städte?

LH: Ja, denn dort finden sich in der Regel die großen, leistungsfähigen und gut zahlenden Orchester.

ED: Das Renommee des jeweiligen Orchesters ist ausschlaggebend.

Die erste Hürde bei der Bewerbung um eine Orchesterstelle ist sicherlich, dass man überhaupt berücksichtigt und gegebenenfalls zu einem Vorspiel eingeladen wird. Wer entscheidet darüber bei Ihrem Orchester?

ED: Die jeweilige Instrumentengruppe entscheidet in geheimer Wahl.

LH: Grundsätzlich sind alle Mitglieder des Klangkörpers darin eingebunden. Je nach Instrument sind bestimmte Gruppen mit der Vorauswahl beauftragt.

Wie viele Aspiranten dürfen für eine Stelle vorspielen?

ED: In der Regel 30 Kandidierende pro Stelle.

LH: 20 - 30 Kandidaten.

Welchen Anforderungen müssen sich die Bewerberinnen und Bewerber beim Vorspiel stellen?

ED: Solokonzerte, ausgewählte Orchesterstellen und Kammermusik.

LH: Live-Vorspiel in mehreren Runden. Vortrag eines Solokonzertes oder Solowerkes und eine Auswahl an Orchesterstellen aus dem gängigen Repertoire. Bisweilen wird auch eine Runde mit Kammermusik durchgeführt.

Gibt es da Unterschiede, je nachdem ob man sich für ein reines Konzertorchester oder ein Opernorchester bewirbt?

ED: Ja, in der Auswahl der Orchesterstellen.

LH: Das Repertoire der Orchesterstellen ist darauf ausgelegt.

Wer ist von Seiten des Orchester zugegen beim Probespiel, und wer ist in der engeren Jury?

ED: Je nach zu besetzender Stelle sieht die Probespielordnung die Anwesenheit der jeweiligen Stimmgruppen sowie der Fachgruppen vor.

LH: Je nach Instrument eine Auswahl an Musikerinnen und Musikern, manchmal sogar der gesamte Klangkörper sowie der Chefdirigent.

Sind bezüglich der Bewertung einer Darbietung Meinungsverschiedenheiten häufig?

LH: Ja.

Wenn es knapp wird, wer gibt den Ausschlag?

ED: Es gibt eine anonyme Abstimmung mit festgelegtem Quorum.

LH: Die Mehrheit.

Dürfen Informationen über die Probespielteilnehmende und deren Darbietung nach außen dringen?

ED: Nein, hier gilt der Datenschutz.

LH: Nein, das ist selbstverständlich vertraulich.

Die nächste Hürde dürfte für die Durchgekommenen wohl das Probejahr sein. Dauert das immer genau ein Jahr oder kann es auch kürzer oder länger sein?

ED: Der „Tarifvertrag für Musiker in Konzert- oder Theaterorchestern“ (kurz: TVK) sieht für das Probejahr eine maximale Dauer von 24 Monaten vor.

LH: Die Zeit der Erprobung dauert in der Regel ein Jahr, selten auch 18 Monate. Häufig wird die Probezeit zugunsten der Kandidaten im Laufe der Prüfungszeit verkürzt.

Welches sind die häufigsten Gründe für eine vorzeitige Beendigung der Probezeit?

LH: Mangelnde musikalische und instrumentale Leistungen, Schwächen in der Kommunikation auf der Bühne, schlechte Vorbereitung.

Gibt es Einstellungen ohne Befristungen?

ED und LH: Nein.

Wo ungefähr liegt das Durchschnittsalter bei der definitiven Einstellung?

LH: Bei ca. 25 - 30 Jahren.

Ist das Angebot an hochqualifizierten Orchestermusikerinnen und -musikern ausreichend hoch?

LH: In der Regel ja.

Herzlichen Dank, Ellen Deger und Prof. Lucius A. Hemmer für ihre Einblicke.

Art. 5|III hatte noch eine weitere Frage an die beiden bereitwillig Auskunft gebenden Vertreter der Nürnberger Orchester gerichtet, doch die blieb aus verständlichen Gründen unbeantwortet. Es ging darum, ob das „Menschliche“ bei der Auswahl von Neueinstellungen ebenfalls eine Rolle spiele oder ob es nur um die rein musikalische Integrationsfähigkeit gehe. Doch die menschliche Seite einer Persönlichkeit offenbart sich naturgemäß erst im Laufe einer längeren Zusammenarbeit und ist kaum qua Probespiel zu beurteilen.

Auf die gleiche Frage hatten wir kürzlich von dem Vertreter eines anderen Orchesters eine vorsichtige Antwort erhalten. Markus Mayers, Violoncellist und Orchestervorstand der Bamberger Symphoniker, meinte dazu: „Die menschliche Seite lässt sich kaum überprüfen, ist aber sehr wichtig, zumal für ein Orchester, das oft gemeinsam unterwegs ist und schon deshalb einen soliden Zusammenhalt braucht.“ Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Verweildauer in Symphonieorchestern von Rang oft sehr lange ist, weshalb atmosphärische Störungen zur Chronifizierung neigen würden.

Je höher das Niveau eines Klangkörpers und damit auch die Tarifeinstufung ist, desto geringer sind die Chancen, durch einen Wechsel noch eine Verbesserung erreichen zu können. Das führt zwangsläufig zu einer langjährigen „Treue“ zum jeweiligen Orchester und damit auch zu langjährigen Dienstzeiten am selben Ort. Natürlich spielt auch die Instrumentengruppe eine Rolle.

Um ein Extrembeispiel zu nehmen: Wer eine Solostelle beim BRSO (Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) bzw. bei den Berliner oder Wiener Philharmonikern hat, wird dort mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum Ruhestand bleiben, denn weltweit gibt es keine Orchesterstellen mit noch größerem Renommee. Eine Etage unter dieser dünnen symphonischen Höhenluft haben die Nürnberger Symphonieorchester gleichwohl einen exzellenten Ruf. Beide Klangkörper haben bereits Auszeichnungen erhalten und erfreuen sich eines regen und verlässlichen Zuspruchs seitens des Publikums aus Nürnberg und der Region.

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