Vorhang auf!

Keine Hoffnung auf die Gnade des Vergessens

Die Staatsoper Nürnberg legt eine erschütternd stringente Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „La Traviata“ vor

veröffentlicht am 10.10.2025 | Lesezeit: ca. 4 Min. | von Martin Köhl

„La Traviata“ am Staatstheater Nürnberg

„La Traviata“ am Staatstheater Nürnberg, Foto © Staatstheater Nürnberg, Pedro Malinowski

Lässt sich eine Oper vorstellen, die zwingender einen Blick aus heutiger Perspektive verlangt als Giuseppe Verdis „La Traviata“? Wohl kaum, denn das Stigma des schlechten Rufes, zumal einer „gefallenen Frau“, im Zeitalter der scheinbar so gesitteten Bürgerlichkeit erfährt in digital-viralen Zeiten eine exponentielle Steigerung. Dass ein Gerücht, wie es in Rossinis „Barbier von Sevilla“ heißt, „ein Lüftchen“ sei, wirkt geradezu verharmlosend gegenüber dem, was heute zutreffend als „Shitstorm“ bezeichnet wird. Folglich muss man ein Schicksal wie jenes der Kurtisane Marie Duplessis, die durch Alexandre Dumas' Roman „Kameliendame“ literarische Berühmtheit erlangte, quasi zwangsläufig ins Internetzeitalter verlegen.

Genau das wird in der Neuinszenierung der „Traviata“ durch die Staatsoper Nürnberg von Anfang an mit erschreckender Deutlichkeit durchkonjugiert. Die Trolle der digitalen Halbwelt, Influencerinnen also, fläzen sich vor den Kameras und ahnen noch nicht, wie sehr diese auf ewig gespeicherten Bilder sich eines Tages rächen könnten. Für Ilaria Lanzino (Regie) und Wiebke Hetmanek (Dramaturgie) ist die Protagonistin Violetta keine Kurtisane, der man noch eine gewisse Bereitschaft zu ihrer fragwürdigen Berufswahl unterstellen darf, sondern das Opfer eines Party-Missbrauchs, der ins Netz gestellt wurde.

Diese Vergewaltigungsszene wird pausenlos unterfüttert mit voyeuristischem Gehabe. Die Festgesellschaft gafft ständig ins Smartphone, im Hintergrund lautet die Trumpsche Devise für die Ölförderung beziehungsreich „Drill, Baby, drill!“, und Violetta erinnert mit ihren Häschen-Ohren an die Play-Boy-Welt Hugh Hefners. Irgendwann entsteht Überdruss am Dauerrammeln und man möchte der Regie sagen, dass seitens des Publikums längst alles verstanden wurde. Aber dann kommt ja auch der zweite Akt und damit die Schlüsselszene dieser Aufführung.

Im feinen Ambiente des Germont-Interieurs könnte Violetta zur familiären Erweiterung avancieren, doch dem Verlobten von Alfredos Schwester erschließt sich die Identität des Gastes mitsamt der einschlägigen Vergangenheit. Fast triumphierend hält er sein Handy in die Höhe und konfrontiert die Familie mit den problematischen Internetspuren. Einmal viral, darf man sich keine Hoffnung mehr auf's Vergessen machen. Obwohl dieser Regieeinfall denkbar naheliegend ist, wirkt die Szene erschütternd, verstärkt noch durch das berührende Duett von Giorgio Germont und Violetta.

Der Familienpatron wird von Sangmin Lee als ein mitfühlender Mensch charakterisiert, der einerseits nur zweischneidigen Trost spenden kann, weil er die Ehre seiner Familie retten muss, andererseits aufrichtige Anteilnahme am Schicksal der „Traviata“ zeigt. Derweil kommentiert seine Tochter im Hintergrund durch Verlobungsvorbereitungen den Sieg der Familie über die drohende Mesalliance. Überhaupt, der Bühnenhintergrund wird hier mit seiner Zweistufigkeit bedeutungsvoll genutzt. So auch im Schlussakt, wenn Violetta oben auf dem Krankenbett dahinsiecht, aber unten ihre Rolle zu Ende spielt.

Das Wiedersehen von Alfredo und Violetta am Ende des zweiten Aktes inklusive der auf Unwissenheit beruhenden Demütigung zeitigt einen sängerisch und darstellerisch großen Auftritt Sergei Nikolaevs. Zuvor hat Elisa Verzier als Violetta (in der B-Premiere) bereits mehrfach ihre außergewöhnlichen stimmlichen Tugenden unter Beweis stellen können. So in den Duetten mit Alfredo und mit dem Vater oder in der Szene, in der sie die Ernüchterung nach dem Fest gestaltet und die Trauer darüber, dass ihre bisherigen Begegnungen und ihr geführtes Leben nicht zu den erhofften Zielen geführt hatten.

Die Sopranistin ist eine Meisterin der hohen Pianissimotöne, vollendeter Registerwechsel und leichter Tonansätze in jeglicher Lage, besitzt aber auch genügend Kraft für markante Spitzentöne. Ihr abschließendes "Addio del passato" – bewegend! Dennoch war keine Fallhöhe zu den anderen Besetzungen zu bemerken, die sängerdarstellerisch ausnahmslos überzeugten. In diesen Befund ist ausdrücklich auch der bestens aufgelegte Opernchor einzubeziehen. Für beseeltes Musizieren der Staatsphilharmonie Nürnberg und eine kongruente Abstimmung mit dem Bühnengeschehen sorgte Björn Huestege am Dirigentenpult.

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