Ein Verführer mit Halbwelt-Image
Das Theater Erfurt überzeugt mit einer durchdachten Lesart von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Giovanni“
veröffentlicht am 05.11.2025 | Lesezeit: ca. 6 Min. | von Martin Köhl
Selten hat es in der Rezeptionsgeschichte von Mozarts „Don Giovanni“ eine so zwingende Steilvorlage für aktualisierende Inszenierungsideen gegeben wie in den beiden zurückliegenden Jahren. Ob die Epstein-Affären oder der Pélicot-Komplex – man hätte nur zugreifen müssen, geht es doch dort wie in der Oper nur um ein Thema: die Verfügbarkeit von Frauen. Alexandra Pape, die Regisseurin der neuen Inszenierung von Mozarts Meisterwerk am Theater Erfurt, hat nicht zugegriffen, und das zu Recht. Selbst einen Don Giovanni sollte man vor dem Vergleich mit der Perfidie der oben genannten Taten schützen.
Knock-out-Tropfen sind nämlich nicht das Mittel seiner Wahl, sondern eine Mischung aus Verführung, herrischem Adelsgehabe, taktisch klug eingesetzter finanzieller Generosität und zum Schluss auch einer gehörigen Portion physischer Überwältigung. Zudem spielt die ausdrückliche Kategorisierung des Stücks als dem Genre der opera buffa zugehörig eine nicht zu vernachlässigende Rolle, mag das aus der Perspektive der Opfer auch zynisch klingen.
Die Erfurter Kostümbildnerin Yeon-Sung Monz gibt im Programmheft auf die Frage nach Don Giovannis Wesen eine deutliche Antwort: Er sei ein Krimineller. Einspruch: Typen wie der dissoluto punito (so die originale Bezeichnung des Protagonisten) sind damals wie heute leider Normalos. Auch hier könnte man, um mit Hannah Arendt zu sprechen, die „Banalität des Bösen“ herbeizitieren. Doch was früher noch als "amouröse Eroberung" durchgegangen sein mag, heißt heute – Stichwort "me too" – schlicht und eindeutig Vergewaltigung.
Davon sieht man freilich nichts auf der Bühne, denn das Erfurter Theater hat neuerdings eine Intimitätskoordinatorin, die über die Nähe zwischen den Darstellenden wacht. Das hat auch für das Publikum den großen Vorteil, dass die ebenso nervigen wie langweiligen Sexszenen, die wir uns jahrzehntelang anschauen mussten, zumindest in Erfurt wohl der Vergangenheit angehören. Ausnahme: die Violation der Donna Anna gleich eingangs zum Ouvertürenfinale. Die ist allerdings dramaturgisch wichtig, liefert sie doch den Grund für den wahrlich unbeabsichtigten Totschlag an Annas Vater, dem Komtur. Da war halt etwas schiefgelaufen bei Don Giovanni …
Was man sich allerdings in Erfurt und sowieso allenthalben in den Theatern republikweit anschauen muss, ist das Herumgefuchtel mit Pistolen. Wo ist eigentlich der gute alte Degen geblieben? Auch dieser Don Giovanni beginnt mit Schüssen und endet gleichfalls mit solchen. Das ist der Regieidee geschuldet, nicht nur den Komtur, sondern auch die Zofe ins Jenseits zu befördern, Letztere gleich zwiefach, sozusagen als letale Rahmenhandlung. Ansonsten geht es in Erfurt weitgehend librettokonform zu, selbst zum Schluss, wenn die Wahl auf das lieto fine der Prager Uraufführung fällt.
Die Bühnenbildnerin Tamara Stotz hat sich eine Szenerie ausgedacht, die in geschickter Reduzierung die Orte der Handlung teils historisierend, teils modern miteinander verschränkt oder zumindest elegante Übergänge ermöglicht. Die Kostümierung besticht durch ihre originellen Stoffe und die klare Zuordnung bezüglich der Stände. Die Ausnahme ist das düster-schwarze Habit Don Giovannis, in dem Alessio Fortune Ejiugwo (in der B-Premiere) in sportlicher Manier – und ausgestattet mit einer markanten Stimme – über die Bühne fegte. Das ist kein adlig-vornehmer Verführer, sondern einer mit Halbwelt-Attitüde.
In musikalischer Hinsicht gelang dem Thüringer Hauptstadttheater einmal mehr eine beeindruckende Aufführung. Das lag einerseits am tadellosen Opernchor, am hellwachen Philharmonischen Orchester Erfurt und seinem so präzise wie sängerfreundlich agierenden Dirigenten Hermes Helfricht. Es war aber ebenso einer Solistenauswahl geschuldet, die nicht zuletzt von der Ergänzung durch vielversprechende Kräfte aus dem Thüringer Opernstudio profitieren konnte.
Aus dem Trio der Sopranistinnen neigten Liudmila Lokaichuk (als Donna Anna) und Alexandra Yangel (als Donna Elvira) von Anfang zu dramatischen Schärfungen, was plausibel wirkte angesichts der bereits erlittenen Schmähungen bzw. Taten des adligen Verführers. Die beiden haben halt schon einiges mitgemacht: die Tochter des Komturs den Mord am Vater durch Don Giovanni, dessen Verlobte die chronische Untreue des Schürzenjägers. Die Bravourarien der beiden Donne gerieten zu Schmankerln, nachdem sie schon zuvor ihre Empörung aus sich herausgeschrien hatten.
Zurückhaltender ging Antonia Schuchardt mit ihrer schön timbrierten Stimme um, und das hatte gute Gründe. Die zögerliche Zerlina hat mangels vergleichbarer Erfahrungen noch keine triftigen Gründe für ohnmächtige Wut auf den Wüstling. Dafür durfte sie nach der Pause die Arie „Vedrai carino“, die sie ihrem Masetto (Johannes Schwarz) gönnt, zu einem lyrisch orientierten musikalischen Edelstein polieren. Don Ottavio (Tristan Blanchet) sinnierte über die Todesarten, die er sich für Don Giovanni wünschte, was im Bühnenhintergrund prompt von einem elektrischen Stuhl und anderen Marterinstrumenten kommentiert wurde.
Natürlich muss noch vom Diener des Lüstlings die Rede sein, denn ohne einen kurzweiligen Leporello ist ein „Don Giovanni“ so fade wie eine „Fledermaus“ ohne den Gerichtsdiener Frosch. Rainer Zaun zog die Register-Arie souverän aus dem Drucker, machte allerlei Faxen und spielte beim Fest den gut gelaunten Animateur. Als der Komtur zum finale fatale schon drohend am Bühnenrand wartete und dann sowohl leibhaftig als auch in einem Sarg aufgebahrt erschien, sorgte die Arie Donna Annas für eine bewegende Szene. Dann ging diese bemerkenswerte Inszenierung direkt in den fröhlichen Appendix über und hinterließ ein sichtlich beeindrucktes Publikum.
Mehr Informationen zum Stück und zu den weiteren Terminen findet man unter www.theater-erfurt.de.