Sommerkonzerte mit viel Chormusik in Ingolstadt
Stockhausen und, unter Nagano, Mahler und Strawinsky
veröffentlicht am 15.07.2015 | Lesezeit: ca. 6 Min.
Mit Joseph Haydns „Jahreszeiten“ haben im Festsaal Ingolstadt Kent Nagano, die Audi-Jugendchorakademie und das üblicherweise von Enoch zu Guttenberg dirigierte Orchester der KlangVerwaltung am vergangenen Sonntag das Vorsprung-Festival innerhalb der Audi Sommerkonzerte eröffnet. „Natur und Technik“ lautet das diesjährige Motto des Vorsprung-Festivals. Am heutigen Mittwoch wird Nagano gemeinsam mit dem fabelhaften, 1980 aus Mitgliedern der Jungen Deutschen Philharmonie hervorgegangenen Frankfurter Ensemble Modern und Thomas Zehetmair von 19.30 Uhr an im Theater Ingolstadt musizieren.
Zum Einstieg erklingen in einer Bearbeitung von Ichiro Nodaira Ausschnitte aus der „Kunst der Fuge“ BWV 1080. Hernach (so betitelt sind im Übrigen Gottfried Benns Briefe an Ursula Zierbarth, die 2001 bei Wallstein in Göttingen herausgekommen sind), hernach also folgt „Mémoriale” für Flöte und acht Instrumente von Pierre Boulez, der das Werk dem jung verstorbenen kanadischen Flötisten Lawrence Beauregard – Mitglied des Ensemble InterContemporain – gewidmet hat. Zu den absoluten Klassikern des Repertoires gehört Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61, komponiert binnen kürzester Zeit im Herbst 1806. Ein Kritiker der Uraufführung glaubte doch tatsächlich, dass „der Zusammenhang oft ganz Zerissen [sic] scheine“. Auch sei das Werk „durch eine Menge unzusammenhängender und überhäufter Ideen und einen fortwährenden Tumult einiger Instrumente“ völlig überfrachtet. Man sieht: Auch im frühen 19. Jahrhundert hatte es zeitgenössische Musik nicht leicht.
Die Audi Sommerkonzerte feiern heuer ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen. Höhepunkt der Festivitäten ist das Jubiläumswochenende am 18. und 19. Juli. Am Samstag steht Gustav Mahlers mehr als anderthalbstündige Dritte Symphonie auf dem Programm. Das London Symphony Orchestra wird in arg großer Besetzung nach Oberbayern reisen müssen, denn die Dritte verlangt unter anderem acht Hörner, vier Flöten, vier Oboen, vier Trompeten, vier Posaunen, Posthorn (aus der Ferne), zwei Harfen. Und auch die Schlagzeuger haben zu tun: an mehreren kleinen Trommeln, Tambourin, großer Trommel, freihängendem sowie einem an der großen Trommel befestigten Becken, an Triangel, zwei Glockenspielen, Tam-Tam, Rute und Glocken.
Das Alt-Solo wird Mihoko Fujimura übernehmen, und erstmals sind in Ingolstadt auch die Augsburger Domsingknaben und, wiederum, die Audi-Jugendchorakademie mit dabei. Die Gesamtleitung liegt bei Kent Nagano. An seinen „lieben, guten Freund“, den Hamburger Mäzen Hermann Behn, schreibt Mahler aus Steinbach am Attersee, er sei heute (am 11. Juli 1896) „endlich in der glücklichen Lage, Dir die Beendigung der Composition meines ersten (und letzten) Satzes [der Dritten] anzuzeigen. Ich werde mich nun, um ein wenig auszuruhen, auf einige Tage im Gebirge herumtummeln“ (Mahler war ein passionierter Bergwanderer). Zum Eröffnungssatz schreibt Mahler, er führe den Titel „Der Sommer marschirt ein“, „und dauert ungefähr – 45 Minuten!“. Dieser Satz, „Kräftig. Entschieden“ überschrieben, sei „so ziemlich das Keckste, was ich bis jetzt concipirt“. Dem können wir nur zustimmen. Und dazu raten, sich die Aufführung in Ingolstadt nicht entgehen zu lassen.
Im Liebfrauenmünster heißt es dann von 22 Uhr an „Aus der Tiefe der Zeit“. Neben Guillaume de Machauts „La Messe de Nostre Dame“ kommen noch des Schweizers Frank Martin Messe für zwei vierstimmige Chöre sowie eine Auftragskomposition aus der Feder des aus Palästina stammenden Samir Odeh-Tamimi zu Gehör. Ausführende sind die Singphoniker, das Ensemble Mixtura (Schalmei und Akkordeon) und die Audi- Jugendchorakademie unter der Leitung von Martin Steidler. Für das Konzertdesign zeichnet Folkert Uhde verantwortlich.
Nicht versäumen sollte man am Sonntag (15 Uhr) das Konzert mit dem Minguett Quartett, das Ludwig van Beethovens op. 130 interpretieren wird und außerdem in die Luft gehen wird. Nichts weniger nämlich macht Karlheinz Stockhausens „Helikopter-Streichquartett“ erforderlich. In die Luft gegangen sind auch einige der Zuhörer der Uraufführung von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Das Frühlingsopfer bildet den Abschluss des Jubiläumskonzertes in der Werkhalle N58 (von 19 Uhr an). Zuvor erklingen Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-moll, BWV 565 (in einer Bearbeitung für Orchester von Leopold Stokowski) sowie George Antheils „Ballet mécanique“.
Der Ernst-Bloch-Schüler Antheil, 1959 in New York verstorben, galt als das Enfant terrible seiner Zeit. Das im Winter 1923/1924 komponierte „Ballet mécanique“ ist eine Maschinenmusik par excellence, geschrieben für Fernand Légers gleichnamigen Film. Die Originalfassung sieht sechzehn Pianolas vor, zwei normale Klaviere, drei Xylophone, mindestens sieben elektrische Klingeln, drei Flugzeugpropeller, eine Sirene, vier große Trommeln, Pauken, Glockenspiel, Tam-Tam. Am Pult des London Symphony Orchestra wird abermals Kent Nagano stehen.
„Erwarten Sie Wunder!“ möchte man den Jubiläumskonzertbesuchern zurufen. So heißt ein Buch, das Nagano zusammen mit Inge Kloepfer geschrieben und im vergangen Jahr im Berlin Verlag vorgelegt hat. Es verhandelt unter anderem die Frage, ob denn klassische Musik heute noch zeitgemäß sei. Nagano jedenfalls, bis 2013 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, träumt von einer Welt, „in der jeder Mensch die Chance hat, zur klassischen Musik zu finden“. Mithin von einer besseren.
Vorsprung-Festival © Wolfgang Günzel
Aus der Tiefe der Zeit © Felix Bröde
Jubiläumskonzert © Alberto Venzago