Szene

Den Himmel lesen lernen bei WortWärts in Nürnberg

Christiane Neudecker bringt ihre „Sommernovelle“ mit

veröffentlicht am 06.08.2015 | Lesezeit: ca. 6 Min.

In seine zehnte Runde geht am kommenden Wochenende das Literaturfest WortWärts in der Nürnberger Wurzelbauerstraße 29. Unter dem Titel „Ganz Ohr sein“ lädt der gebürtige Münchner Arwed Vogel am Samstag zu einer – allerdings bereits ausgebuchten – Prosa-Schreibwerkstatt. Eine Podiumsdiskussion wird am Sonnabendabend von 19 Uhr an im Galeriehaus Nord der Frage nachgehen, ob es sich denn beim Jugendbuch um ein eigenständiges Genre handele. Ins von Dirk Kruse moderierte Gespräch kommen werden unter anderen die in Forchheim aufgewachsene, in Berlin lebende Autorin und Verlegerin Simone Veenstra und die Baden-Badenerin Katrin Zipse, die im vergangenen Sommer mit „Glücksdrachenhochzeit“ ihren ersten Jugendroman vorgelegt hat. Erschienen ist er im Bamberger Magellan Verlag, der sich von 18 Uhr an bei einem kleinen WortWärts-Jubiläumsempfang vorstellen wird.

Am Sonntag werden sich von zwölf Uhr an auf der WortWärts-Freiluftbühne mehr als ein halbes Dutzend Autorinnen und Steller der Schrift präsentieren. „... denn das Gute liest so nah“ nennt sich das Motto. Zu Gast sind beispielsweise Iris Hanika und Michael Zeller,

Marica Bodrožic, die Romane und Erzählungen ebenso veröffentlicht hat wie Gedichte und außerdem aus dem Englischen (Anne Sexton etwa und Robinson Jeffers) und aus ihrer Muttersprache, dem Kroatischen (Dubravka Ugrešic), übersetzt hat, sowie Steffen Kopetzky. Den Abschluss auf der Lesebühne macht von 16.45 Uhr bis 17.30 Uhr Christiane Neudecker.

Neudecker, gebürtige Nürnbergerin des Jahrgangs 1974, studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, hat am Kleisttheater Frankfurt/Oder inszeniert und vor einer Dekade das Libretto für die Einstein geltende, multimediale und interaktive Oper „C – the speed of light“ des Künstlernetzwerks phase 7 verfasst, zuletzt ein weiteres für Christian Steinhäusers begehbare Opernistallation „Himmelsmechanik – eine Entortung“, mit welcher die Deutsche Oper Berlin vor zwei Jahren ihre Spielzeit eröffnete. Ihren ersten Roman hat Neudecker 2008 bei Luchterhand vorgelegt, mit dem in Myanmar angesiedelten „Nirgendwo sonst“. 2013 folgte mit „Boxenstopp“ ein weiterer Roman, während „Das siamesische Klavier“ von 2010 unheimliche Geschichten versammelt. „Sommernovelle“ heißt Neudeckers jüngste, ebenfalls bei Luchterhand (im zurückliegenden Mai) erschienene Veröffentlichung.

Die Lektüre dieser in acht Kapitel gegliederten knapp zweihundert Seiten ist ein großes Vergnügen, auch ein intertextuelles. Man muss die zahlreichen Anspielungen keinesfalls (er-)kennen, bereichernd sind sie gleichwohl. Das beginnt schon mit dem Titel, der an Strawinsky denken lässt, an Wedekind, an Éric Rohmer (mich persönlich auch an Rüdiger Görners der Adria nahes Venedig-Gedicht „Herbstsonate“), an, darin Rohmer ähnlich, Shakespeares „Wintermärchen“. Das Eröffnungskapitel ist „Das Meer, das Meer“ überschrieben, ruft also Iris Murdochs wunderbaren Roman gleichen Namens von 1978 in Erinnerung und über diesen wiederum Xenophons „Anabasis“. En passant mischen weiters auch Gottfried Keller und E.T.A. Hoffmann mit. Neudecker selbst verweist in einer knappen Quellenangabe zudem auf Theodor Storms „Sylter Novelle“, auf „A God in an Alcove“ von Bauhaus und auf „This Corrosion“ von The Sisters of Mercy. Und bei dem „alternden englischen Rocksänger, den es der Liebe wegen in unsere Kleinstadt verschlagen hatte“, könnte es sich, sofern ein reales Vorbild existierte, um Kevin Coyne handeln.

Man schreibt Pfingsten 1989, und die beiden ziemlich besten Freundinnen Lotte und Panda, gerade fünfzehnjährig, wollen auf der Vogelstation einer Nordseeinsel nichts weniger als die Welt retten, oder doch sie zu einer besseren machen, als sie es gerade ist mit all dem sauren Regen und der so lange noch nicht verzogenen tschernobylschen Wolke. Die Freundinnen machen sich kundig, lernen Aussehen, Größe und Brutverhalten etwa des Strandläufers kennen, des Rotschenkels, des Sandregenpfeifers, des Odinshühnchens, lernen all die Möwen zu unterschieden, die Mantel-, Herings-, Dreizehen-, Gelbfuß-, Braunkopf- und Rotschnabelmöwen. Selbstverständlich haben die Mädchen auch ein Auge für die Flora der Insel, so für die Kuckuckslichtnelken.

Vor allem aber müssen sie lernen, den Himmel zu lesen, denn es gilt, für den Stationschef, einen eher unsympathischen Professor, Daten zu sammeln, die Zahl der Vögel im doppelten Sinne im Flug ermitteln zu können. Hiller, der mit seinem fast symbiotischen Kompagnon Sebald zu den Alteingesessenen der Insel, und der Station, zählt, weiht Panda in diese Kunst der Himmelslektüre ein. Da Hiller, wie Panda, die sogar als sie noch gar nicht lesen konnte, die Menschen unterteilte in jene mit Büchern und jene ohne, Buchstaben mag, da beide sehr gern und fast immer und überall lesen, entwickelt sich zwischen ihnen binnen kurzem eine tiefe Freundschaft.

Lotte hingegen zeigt eher Interesse an Julian (der allerdings ein bisschen etwas mit Melanie hat). Eine der erwachenden Sexualität geschuldete Liebes(neben)handlung fehlt also nicht in jenem Sommer, in dieser Novelle. Zu deren Lektüre wir nur raten können. Wenn Sie also Buchstaben mögen, wenn Sie Pandas an Hiller gerichtete Frage – „Lesen Sie gern? – mit einem Ja beantworten, machen Sie sich auf in die Buchhandlung Ihres Vertrauens und legen Sie sich Christiane Neudeckers „Sommernovelle“ zu.

Christiane Neudecker, Sommernovelle. München: Luchterhand, 2015. 192 Seiten, 16,99 Euro.

Portrait Christiane Neudecker © Jens Oellermann

Strandlektüre: Christiane Neudecker © Silvia Pelster

Cover “Sommernovelle” © Luchterhand Verlag

Schreibt auch Libretti: Christiane Neudecker © Jochen Reiter

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