Mit und würdig alt werden!
SIDO rappt sich durch die Region!
veröffentlicht am 09.10.2015 | Lesezeit: ca. 7 Min.
Paul Hartmut Würdig. In Zeiten postmoderner Künste wäre der Name wohl tatsächlich tauglich, etwaige Charts zu stürmen. Im Sachbuchgenre vielleicht. Paul Hartmut Würdigs neuester Klassiker „Astronaut“ stürmt die Spiegel-Bestsellerlisten. Klingt gar nicht einmal so dumm. Ist aber maximal visionär. Da Paul Hartmut Würdig bislang als Buchautor noch nicht in Erscheinung trat - noch nicht wohlgemerkt. Seine Biographie verfasste der Berliner Journalist Marcel Feige. Würdig selber macht eher als Songschreiber von sich reden. Und da er das bislang weniger im sachlichen als vielmehr im Deutsch-Hip-Hop-Bereich tat, eignete sich sein bürgerlicher Name nun doch nicht. Die Folge: Vor mehr als zehn Jahren verpasste sich der gebürtige Ostberliner den Künstlernamen „Sido“ - und stürmte damit Billboard- und sonstige Charts.
Die Sturm- und Drangzeiten Sidos sind dabei längst vorbei. Der zweifache Familienvater gilt heutzutage mehr denn je als Mahner: Davon überzeugen kann sich seine Anhängerschaft am 2. November in der Hofer Freiheitshalle, am 6. November in der Würzburger Posthalle und am 21. November in der Bamberger Arena - im Rahmen seiner „Liebe live“-Tour gastiert er gleich dreimal im Frankenland.
Der 35jährige war einer der Vorreiter des aggressiven Gangsterraps in deutscher Form. Plakativ und provokant („Arschficksong“) eroberte er die Herzen vornehmlich jüngerer männlicher Fans. Sollten die eine ähnliche Entwicklung genommen haben wie ihr einstiges Vorbild: Alles richtig gemacht. Schließlich entwickelte sich Sido im Laufe der Jahre vom Provokateur zum äußerst ernstzunehmenden Musiker. Nicht umsonst verdiente er sich jüngst seinen ersten Nummer eins-Titel in Deutschland. An der Seite von Senkrechtstarter Andreas Bourani, einem alten Weggefährten, stürmte er mit „Astronaut“ die Charts und wurde seinem Ruf als exzellenter Geschäftsmann mit dieser Kooperation einmal mehr gerecht. Es war gleichwohl auch der allerletzte Schritt, den der einstige Untergrund-Rapper tat, um endgültige Anerkennung über alle sozialen Schichten hinweg zu erreichen. Schon früh kapselte er sich von seiner originären Basis ab. Der Sohn einer Sintiza und eines deutschen Vaters, seinen Angaben nach mit iranischen Wurzeln behaftet, erkannte die Möglichkeiten des Mainstream. Bei Stefan Raabs Bundesvision Songcontest 2005 dann der Durchbruch: Er belegte mit „Mama ist stolz“ den dritten Platz, legte seine Maske ab und war damit für die Öffentlichkeit greifbarer denn je zuvor - weitere Auftritte bei Stefan Raab in dessen Show „TV Total“ und der von ihm iniitierten Wok-WM taten ihr übriges. Der endgültige Ritterschlag folgte 2010: Noch vor Max Herre war es der zweite deutsche Hip-Hop-Act der ein MTV Unplugged auf dem Markt brachte. Im Fontane-Haus, im Märkischen Viertel, zeichnet der Musiksender ein Unplugged-Konzert auf, das im Mai veröffentlicht wurde.
Doch nicht nur auf der Bühne sorgt der verheiratete Familienvater für nachhaltiges. Auch abseits davon rückt er mehr und mehr in den Fokus. Ob in seiner Grimme-Preis-nominierten Sendung „Sido geht wählen“ vor der Bundestagswahl 2009, als Juror in diversen Castingsshows und nicht zuletzt als Schauspieler setzt er immer wieder markige Eckpunkte. Die dehnt er aktuell mehr und mehr auf den politischen Bereich aus. „Früher musste ich provozieren“, sagt er selbst „heute habe ich Gehör gefunden.“ Treffender kann man es wohl kaum ausdrücken. Er, dessen adrett gepflegter Bart mittlerweile erste graue Schattierungen erkennen lässt und ein gepflegtes Bäuchlein angesetzt hat, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine Position, die er zu nutzen weiß. In Form von deutlichen Botschaften, die in der aktuellen Phase von Flüchtlingsproblematik und zunehmendem Rechtsruck in der Bevölkerung ernster nicht sein könnte. Er weiß, wovon er spricht. Schließlich flüchtete er mit seinen Eltern im Alter von acht Jahren aus dem Osten Berlins in den vermeintlich goldenen Westen. Nach einigen Wochen in einer Asylbewerberunterkunft versuchte er Fuß zu fassen im demokratischen Westen. Nicht so einfach für einen, der fast nichts hatte. „Uns blieb nur Scheiße bauen“, gibt er heute zu, dass das für einen „dummen Jungen wie ihn der einfachste Weg gewesen sei.“ Aus Scheiße wurde in seinem Fall Gold. Mehrfach sogar. Seine Kritik an den Zuständen in der Republik ist deutlich. „Die klugen Menschen brauchen eine lautere Stimme“ postete Schauspieler Jan Josef Liefers jüngst. „Die lauteste Stimme haben zur Zeit die, die vor Asylbewerberheimen schreien“, stellt Würdig aka Sido fest. Bemerkenswert für einen, der vor Jahren noch selbst keinem noch so deutlichen Streit aus dem Weg ging und der sich mit Bushido, immer noch einer der lautesten Provokateure im Land, gemeinsam präsentiert. Der Familienvater schlägt durch. Ehefrau Charlotte und die beiden Kinder erden den sozialkritischen Rapper, der in seinen Aussagen der Liedermacher-Garde um Hannes Wader immer ähnlicher wird. Nicht immer sonderlich originell - aber zumindest von der Öffentlichkeit gehört. Es spiegelt sich auch in seinem kürzlich erschienenen Album „Sido VI“ wieder: Von Menschenhandel, Hunger, Flüchtlingen, Umweltproblematiken und Fanatismus rappt der 35jährige da. „Ich hoffe nur, dass der Song dich ein bisschen zum Nachdenken bringt“, schließt er seinen Song „Zu wahr.“ Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Mehr Wahrheit geht nicht - auch wenn er in seinen Songs, wie schon in früheren Jahren, noch immer sehr viel von sich selbst erzählt. Unumwunden gibt er zu, dass er seine neuesten Alben auch veröffentlichte, um sich selbst etwas zu beweisen. Nötig hätte er es vermutlich nicht mehr. Die Flut der aktuellen Themen aber bewog ihn, in ungewohntem Tempo nach nur eineinhalbjähriger Schaffensphase sein neues Werk auf den Markt zu bringen. Wie gewohnt bietet er dort auch von ihm geschätzten Jungspunden eine Plattform. Mit Adesse (bei Boombidibyebye) und Estikay („Eier“) bietet er zwei aufkommenden Nachwuchsrappern seine Plattform. Die haben damit Möglichkeiten, die der junge Sido so nicht kannte. Gefordert und gefördert von einem alten Hasen. Und wer weiß. Vielleicht heißt es ja bald tatsächlich: Paul Hartmut Würdigs (echtes) Erstlingswerk „Astronaut“ stürmt die Spiegel-Bestsellerlisten. Es gäbe unterinterssanteres literarisches Buchwerk. Da verhält es sich wie mit Sido auf der Bühne: Er hat sich selbst überlebt und lebt sich in den Arenen der Republik mit seinem neuen Ich aus. Postmodern halt.
Sido in einer Aufnahme zur anstehenden Tour 2015, Foto © Pressefoto