Wir befinden uns im ICE 768 von Würzburg nach Hamburg. Wir, das sind die Bamberger Symphoniker und ich. Und wir müssen die Hände heben, weil der Schaffner das so will, um ihm die Kontrolle zu erleichtern, wer mit einem Gruppenticket im Abteil sitzt. Das Orchester ist unterwegs, um unter der Leitung ihres Chefdirigenten Jakub Hr?ša in der Hamburger Elbphilharmonie gemeinsam mit Albrecht Mayer, seines Zeichens Weltstar und Solooboist der Berliner Philharmoniker, ein Konzert der Extraklasse zu spielen. Auf dem Programm stehen Werke von Edgar Elgar, Richard Strauss und natürlich Bedrich Smetanas „Vaterland“, das musikalische Epos mit dem die Bamberger Symphoniker in diesem Jahr den „Prager Frühling“ eröffnen durften, um dann anschließend eine umjubelte Kurztournee, die unter anderem eben auch in Hamburg Halt macht, zu spielen.
Die Musiker sitzen teils in Gruppen, teils allein, ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl ist zumindest im Zug nicht erkennbar. Mich interessiert, ob es denn nicht auch auf der Reise erforderlich sei, dass man sich als Ensemble auf das Kommende einstimmen müsse. Ein helles Lachen später und ich weiß, dass es auch von Gemeinsamkeit sicherlich ein „Zuviel“ geben kann. „Wichtig sei die Harmonie auf der Bühne“, davor und danach brauche man seine Freiräume. Nichtsdestotrotz gibt es schon die ein oder andere Gruppe, die sich um die typischen ICE-Tische schart und so weltbewegende Themen wie Thermomix oder Tupperware diskutiert oder sich von einem Kollegen in die besonderen Schwierigkeiten bei der Herstellung von Champagner-Sorbet einführen lässt.
Ich hingegen versuche mich ein wenig auf meine Arbeit zu konzentrieren und mir fällt ein, dass es schon wieder Probleme mit der Akustik in der Elbphilharmonie gegeben haben soll. Nach dem Auftritt von Jonas Kaufmann mit dem Basler Sinfonieorchester im Januar dieses Jahres, schwor sich der weltberühmte Tenor nie wieder in der Elbphilharmonie aufzutreten. Abwandernde Zuschauer und störende Zwischenrufe wie „Wir hören hier hinten nichts“ erzürnten Kaufmann so sehr, dass er direkt nach dem Konzert (Gustav Mahlers „Lied von der Erde“) dem kulturellen Leuchtturm der Elbmetropole abschwor. Eilends eingeholte Stellungnahmen des ausführenden Klangdesigners Yasuhisha Toyota und des Intendanten der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, versuchten die Wogen zu glätten, taten letztendlich aber nichts anderes als den zukünftig spielenden Akteuren zu empfehlen, ein genau auf die Halle abgestimmtes Setting anzuwenden. „Dann klappt’s auch mit der Akustik“.
Aber so wirklich zu interessieren scheint dies niemanden. Bei den Musikern ist dies auf jeden Fall kein hörbares Thema. Warum eigentlich nicht? Ist man als Teil des Ensembles eingebettet in den funktionierenden Klangkörper und scheut deswegen den Auftritt nicht oder vertraut man einfach auf die Erfahrung des Dirigenten und darauf, dass der es schon richten wird? Es ist wohl von beidem etwas, wie ich erfahre, vor allem aber das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die der Kollegen, gepaart mit einer gewissen Routine, die man einem Orchester vom Range der Bamberger Symphoniker sicher nicht absprechen kann.
In Hamburg angekommen, mittlerweile ist es nach 20 Uhr, wartet bereits der Bus auf uns, der uns ins Hotel bringen wird. Alles ist perfekt organisiert, da spürt man das funktionierende Orchestermanagement. Die Generalprobe ist für den kommenden Nachmittag angesetzt, aber natürlich haben die meisten Musiker ihre Instrumente dabei und üben auch schon das ein oder andere Mal auf Ihren Zimmern. Jetzt ist erst einmal Freizeit angesagt und so kann jeder tun und lassen, was er mag. Einige gehen gruppenweise zum Essen, andere wiederum ziehen es vor, sich allein auf den Weg zu machen.
Am nächsten Tag fahren wir dann gemeinsam mit dem Bus zur ganz in der Nähe liegenden Elbphilharmonie. Von außen schon ein beeindruckendes Gebäude, setzt sich diese Wahrnehmung auch im (noch völlig leeren) Konzertsaal fort. Eine Frage stellt sich mir aber sofort: Muss man einen Saal so anlegen, dass die Zuhörer bis zu 30 Meter (gefühlt, ich habe nicht nachgemessen) über dem Orchester sitzen? Die Akustik gibt die Antwort. Während auf der Bühne geprobt wird, laufe ich durch den Saal und verweile mal hier und mal dort, mal direkt vor dem Orchester, mal dahinter, mal ganz weit oben und mal ganz weit unten. Die Wahrnehmung ist von jedem Platz aus, egal ob direkt vor dem Orchester oder aber 30 Meter darüber, fantastisch. Der Klang sehr klar, besonders die Bläser und Trommeln kommen sehr stark und klar rüber, lediglich die hellen Töne der 1. und 2. Geige klangen ein wenig schwach. Ansonsten wird tatsächlich jeder Ton überall hörbar, auch die, die vielleicht ungewollt auf der Bühne erzeugt werden.
Das Konzert selbst war ein großer Erfolg. Bei den Soli von Albrecht Mayer hatte man wechselweise das Gefühl, als lege sich eine ganz leichte Sommerbrise über Körper und Geist des Zuhörers (Edgar Elgars „Soliloquy“). Sowohl die Soli von Albrecht Mayer (Edward Elgar und Richard Strauss), als auch Smetanas „Mein Vaterland“ wurden von den Zuschauern begeistert gefeiert, Letzteres scheinbar noch ein wenig mehr. Kein Wunder, denn das Orchester lief gemeinsam mit seinem Dirigenten, Jakub Hr?ša, zur Hochform auf. Von der ersten bis zur letzten Sekunde, vom ersten bis zum sechsten Satz konnte man Konzen-
tration, Aufmerksamkeit und positive Anspannung der Extraklasse erleben. Wer befürchtet hatte, dass die Symphoniker auf der langen Tournee mit dem gleichen Stück ein wenig von ihrer Spannung verlieren könnten, der sah sich getäuscht, allerdings im positiven Sinne. Von den eröffnenden Harfen bis zum abschließenden sechsten Teil, der vom Berg „BlanÍk“ und dem dort schlafenden Ritterheer erzählt, die Bamberger Symphoniker „rockten“ die Elbphilharmonie, brachten sich dabei selbst an den Rand der Leistungsfähigkeit und waren einmal mehr perfekte Botschafter für ihre Heimatstadt. Nicht enden wollender Applaus, Hoch- und Bravorufe und stehende Ovationen sprechen da eine klare Sprache. Da dürfte der nächsten Einladung zum „Internationalen Musikfest“ nichts im Wege stehen.
Nach dem Konzert ist bekanntlich vor dem Konzert und so hatten sicherlich einige Symphoniker schon den nächsten Abend im Kopf, als sie sich von der Elbphilharmonie auf den Rückweg zum Hotel machten. Für einen Teil des Ensembles war die Reise nach dem Auftritt in der Elbphilharmonie beendet, der Rest durfte weiterreisen nach Berlin. Dort hatte die Deutsche Grammophon, CD-Partner der Bamberger Symphoniker, einen Auftritt im Rahmen einer sogenannten „Yellow Lounge“ organisiert. Das Konzept der „Yellow Lounge“ geht auf eine Idee der Deutschen Grammophon zurück, dem ältesten Klassiklabel der Welt, das seit 1998 zum Universal Konzern gehört. Mit der „Yellow Lounge“ und den Orten, in denen sie stattfand und -findet, begeistert die Deutsche Grammophon seit vielen Jahren ein junges und stetig wachsendes Publikum – nicht nur in Berlin, sondern mittlerweile auch auf der ganzen Welt. Dabei ist das Konzept recht simpel: Rund um den Erdball legen DJs klassische Musik auf, Klassik-Stars spielen live und exklusiv in neuen Locations und Formationen, in Szene gesetzt von hochkarätigen Visual Artists. In unserem Fall hatten sich die Verantwortlichen der Deutschen Grammophon einen ausgedienten Supermarkt an der Berliner Jannowitzbrücke ausgesucht, der zu einer Eventlocation umfunktioniert wurde. Sicherlich genau richtig, um klassische Musik aus der manchmal etwas verstaubten U-Musik-Ecke herauszuholen und zu zeigen, dass Klangkonsumenten, die im Alltag wenig mit klassischer Musik anfangen können, auch von einem symphonischen Orchester bestens unterhalten werden. Eine improvisierte Garderobe, zwei Getränkestände, Bierbänke rund um die mobile Bühne und schon war alles gerichtet für die Stars des Abends, Albrecht Mayer und die Bamberger Symphoniker. Schon lange vor offiziellem Beginn (22 Uhr) bildete sich am Eingang eine lange Schlange, ein Bild, das man so bei einem klassischen Konzert in einem alten Supermarkt, vermutlich nirgendwo sonst in Deutschland zu Gesicht bekommen würde. Wenngleich die Yellow Lounge schon eher das jüngere Publikum im Auge hat, ließen es sich offensichtlich auch etliche Ü40er nicht nehmen, diesem speziellen Event beizuwohnen. Bis zum Beginn der ersten Session und in der Pause wurden die Besucher, getreu dem Erfolgskonzept der „Yellow Lounges“ von der Musik der DJs Clé & Aoi Mizuno und den Bildgewalten des VJ Philipp Geist umspült. Im ersten Teil, lässig von Mayer moderiert, präsentierten die Bamberger Stücke von Widmann, Elgar und Strauss, bevor es dann um 23 Uhr mit Ligeti und Ravel weiterging. Die geforderten Zugaben wurden mit Brahms „Ungarischer Tanz Nr. 21“ und Bachs „Kantate Nr. 21“ befriedigt. Nach der Reaktion der Zuschauer zu urteilen, ein voller Erfolg. Selten haben mir die Worte „Der Applaus ist das Brot der Künstler“ so gut gefallen wie an diesem Abend, in einem „Konzertraum“ in dem früher bestimmt auch Brot verkauft wurde.