Während sich die meisten Menschen problemlos einen alten Schriftsteller (wer denkt je an den jungen Goethe?), Musiker (allen voran Mick Jagger) oder Schauspieler (es gibt nicht umsonst Rollen wie Shakespeares König Lear) vorstellen können, sieht das mit Tänzer:innen anders aus. Zu stark sind die Bilder des klassischen Balletts in den Köpfen verankert: Junge, gertenschlanke Körper schweben beinahe schwerelos dahin wie Schneeflocken, die im Winter auf die Erde fallen. Trotz vieler Jahrzehnte der Entwicklung im zeitgenössischen Tanz, trotz einer Pina Bausch, einer enorm ausgeprägten Stilvielfalt und einem Mentalitätswandel der Gesellschaft, hat sich daran bis heute grundlegend nicht genug geändert.
Die meisten Tanzschaffenden versuchen zeit ihres Arbeitslebens gegen veraltete Sichtweisen anzukämpfen, denn sie sehen klar, dass es diese Klischeebilder sind, die den Tanz um sein universelles Potenzial bringen: Tanz ist so viel mehr als körperliche Perfektion. Er ist vielmehr eine umfassende Sprache der Gefühle, die jeder verstehen und nachempfinden kann. Oder wie es Wagner Moreira, der Chefchoreograf am Theater Regensburg ausdrückt: „Ein Grundbedürfnis.“ Dieser Glaube an die Kraft des Tanzes wird bei allen Gesprächsbeteiligten deutlich, egal wo sie in der institutionellen Hierarchie stehen. Die Wege mit der Schieflage zwischen Wunsch und Realität im Tanz umzugehen sind vielfältig, ebenso wie die Lebensläufe der Tänzer:innen, die für diesen Artikel Rede und Antwort standen: Eva Borrmann (*1988) und Susanna Curtis (*1964) repräsentieren zwei verschiedene Generationen aus Nürnbergs freier Tanzszene. Melissa Gutierrez (*1997) aus der Tanzcompanie des Theaters Altenburg Gera und Wagner Moreira (*1977) Spartenleiter am Theater Regensburg sind im klassischen Stadttheatersystem zu Hause. Hannah Teutscher (*1978), ehemalige Tänzerin unter anderem bei Goyo Montero am Staatstheater Nürnberg, hat die Tanzbranche ganz verlassen und führt inzwischen sehr erfolgreich ihr eigenes Sport-Studio.
Leidenschaft und Aufopferung
Alle befragten Tänzer:innen kamen schon früh mit Tanz in Berührung. Mal geschah es stärker aus eigenem Antrieb, wie beispielsweise Hannah Teutscher, die ihren Eltern schon mit fünf Jahren verkündete, dass sie Ballerina werden wollte oder Wagner Moreira, der von Fred Astaire im Fernsehen so verzaubert war, dass er trotz anfänglicher Bedenken, als Junge bei seinen Freunden sofort untendurch zu sein, den Weg in eine Ballettschule auf sich nahm. Mal war es mehr dem Zufall geschuldet, wie bei Melissa Gutierrez, die ein körperlich sehr aktives Kind war und sich neben Schwimmen und Tauchen eben auch noch fürs Ballett meldete, ohne zu wissen was das war. Oder wie bei Eva Borrmann, deren Mutter in ihrer Freizeit gern Flamenco tanzte und während der Kursstunde die Tochter „verräumen“ musste: Praktischerweise wurde Kindertanzen parallel angeboten. Aber auch auf elterlichen Ehrgeiz hin beginnt bei manchen die Bindung zum Tanz. So erzählt beispielsweise Susanna Curtis: „Meine Mutter war ein großer Ballett-Fan und hat mich da mit zwei Jahren hingeschickt. Das war wirklich viel zu früh. Ich habe gar nichts verstanden und wollte da auch nicht hin. Aber sie hat nicht lockergelassen. Erst als ich ca. 11 Jahre alt war und gerade das Kinderbuch ‚Ballettschuhe‘ von Noel Streatfield verschlungen hatte, kam der Sinneswandel.“
Ob früher oder später entstand bei allen Befragten nach den kindlichen Anfängen eine tiefe, manchmal auch ungesunde Leidenschaft für den Tanz, die Disziplin und harte Arbeit erforderte. Melissa Gutierrez und Susanna Curtis schildern, wie sie neben der Regelschule beinah jede freie Minute in der Ballettausbildung verbringen, um sich auf eine professionelle Karriere vorzubereiten, erste Bühnenerfahrungen sammeln und dann doch unterschiedliche Wege gehen: „Als es darum ging nach dem Abitur in die professionelle Ausbildung einzutreten, haben meine Eltern dann doch verlangt, dass ich erst was Vernünftiges mache“, berichtet Susanna Curtis. Sie studierte Deutsch und Französisch in Oxford, bevor es sie doch wieder zum Tanz zog und sie an die Tanzakademie nach Rotterdam ging: „Tanz war Herausforderung für mich. Denn ich war nicht die geborene Tänzerin, schon rein körperlich nicht. Das wurde mir auch auf unschöne Weise gesagt und ich musste wirklich lernen, die Technik zu meistern. Tänzer sind Werkzeuge – das war schon eine gängige Auffassung des Berufs. Dennoch hat es mich angezogen.“ Melissa Gutierrez beschreibt ihr Verhältnis zum Tanz folgendermaßen: „Ich hatte immer ein Problem mit dem Konkurrenzkampf im Ballett. Ich verstehe die Haltung nicht, obwohl ich im Sport durchaus wettbewerbsorientiert bin. Aber was heißt es, im Tanz die Beste zu sein? Das lässt sich doch gar nicht wirklich messen. Da ist immer auch Geschmack dabei. Aus dieser Haltung resultieren aber viele falsche Freundschaften und ein subtiler Konkurrenzdruck, in dem niemand dem anderem etwas gönnt. Das ist ganz anders als im Sport, wo man sich viel mehr unterstützt und ich habe mir damals wirklich überlegt, ob ich in einem solchen Umfeld arbeiten und leben will.“ Sie entscheidet sich dann doch dafür und erhält mit 18 ihr Erstengagement am Kubanischen Nationalballett. Auch Hannah Teutscher beschreibt den enormen Druck, der aber gleichzeitig auch der Kitzel für sie war: „Die Vorstellung von diesem Beruf war, dass es ein komplexer, anstrengender, aber fast magischer Job ist, wenn man das Glück hat, einen Platz in einer professionellen Kompanie zu bekommen. Er beruhte nicht nur auf genetischem Glück und Privilegien, sondern auch darauf, dass man jederzeit geistig und körperlich vorbereitet sein musste, falls man die Chance auf ein Vortanzen bekam.“
Eva Borrmann war sehr schnell klar, dass sie sich eher von der anderen Seite angezogen fühlte: „Ich wollte Stücke kreieren, etwas erschaffen, in dem ich selbst überhaupt tanzen wollen würde. Das fand sich für mich nicht im klassischen Repertoire. Ich habe nach meiner tänzerischen Grundausbildung also einen Master in Dance and Performing Arts gemacht. Hier haben mir die Dozent:innen teilweise mehr aus der Wissenschaft, teilweise aus der Kunst gezeigt, wie weit man Tanz überhaupt fassen kann. Das hat zu einem gesunden Verhältnis zwischen Leidenschaft und Beruf geführt, bei dem ich jeden Tag froh bin, machen zu können, was mir Spaß macht und das ist eher das Choreografieren.“ Fest steht: In der Ausbildung liegt eine Art Schlüssel zum Berufsverständnis und gerade hier scheint die Entwicklung im Tanz zu stagnieren: „Es muss sich einiges verändern“, insistiert Wagner Moreira: „Wenn immer nur auf die Technik geschaut wird, also immer nur auf den Körper, bleibt der Mensch auf der Strecke.“ Dem stimmt auch Melissa Gutierrez zu: „Ich denke, zu wenige Lehrende stellen die Methoden infrage. Sie vertreten mehr den Standpunkt: Ich habe es so gelernt, also muss es auch so sein. Viele wurden selbst traumatisiert und geben es einfach weiter.“ Und da verhält es sich mit Körperbildern und somit auch Altersfragen ähnlich.
Starre Körperbilder – starrer Status Quo?
„In der Ballettschule wurde man regelmäßig auf die Waage gestellt. Es war der Horror. Es geht um Schönheit und Perfektion. Da sind die Vorstellungen noch nicht besonders divers“, sagt Susanna Curtis mit einer großen Portion Realismus. Ihre junge Kollegin Melissa Gutierrez ergänzt: „Und die Technik, die erlernt wird, steht über allem. Vor allem Regeneration und Ernährung sind viel zu wenig Thema. Das ist katastrophal. Deswegen halten viele auch nur bis 30 durch. Da ich immer viel mit Sport zu tun hatte, habe ich das für mich schon immer anders gemacht, z.B. immer viel Protein gegessen, isotonische Getränke getrunken. Meine Kolleg:innen bei der Probe haben mich dann oft aufgezogen: ‚Wir trainieren hier doch nicht für Olympia.‘ Ich habe dann geantwortet: ‚Bei uns ist jeder Tag Olympia und unsere ständige Leistungserbringung ist viel krasser als ein Training im Profisport mit einem konkreten Wettbewerbsziel.“ Tanz bedeutet größtenteils immer noch, einen speziellen Körper zu haben und eine spezielle Technik. Da ist wenig Spielraum, was auch unter Kulturellen- und unter Genderaspekten oft problematisch ist. „In Brasilien gibt es zwar die Vorstellung von elitärem klassischen Ballett nach europäischem Vorbild, aber unsere Physis und ja auch unsere Gesellschaft sind ganz anders. Ich habe meine frühen Ausbildungsjahre eher als offen erlebt, was Herkunft und Gender anbelangt und auch Ausdruck und Kreativität, die man mit der klassischen Technik eben aufgrund des anderen Körperbaus entwickeln musste.“ Was Wagner Moreira eher positiv erleben durfte, ist allerdings auch in seiner negativen Form verbreitet: „Ich habe in der Ballettschule immer wieder erlebt, wie besonders POC-Frauen stark körperlich diskriminiert wurden“, berichtet Melissa Gutierrez aus Kuba. Und da sind wir auch schon bei der Geschlechterfrage, die im Tanz nach wie vor viele Konflikte verursacht. „Es gibt einfach viel mehr Frauen. Das führt zu einem wesentlich härteren Konkurrenzkampf. Männer haben das nicht so stark. Sie müssen auch nicht so herausragend sein“, erläutert die junge Kubanerin. Auch der Regensburger Ballettchef beschreibt die Situation für Frauen als ungerecht: „Und dann ist da auch noch Mutterschaft mit all ihren körperlichen und lebenspraktischen Veränderungen. Das ist so gut wie nicht vereinbar mit der Branche und ich finde das furchtbar. Die meisten Frauen werden dann natürlich auch in ihren potentesten Tänzerinnen-Jahren Mutter.“ Susanna Curtis ergänzt ihre Beobachtung: „Wobei viele es auch gar nicht versuchen, Beruf und Mutterschaft zu vereinen. Ich bin auch schon oft jungen Kolleginnen begegnet, die mit 4-5 Jahren Karriere und dann einem Komplettausstieg als Hausfrau und Mutter planen. Aber Frauen wird auch zu wenig zugetraut. Sie werden nach der aktiven Bühnenkarriere meist Lehrerinnen oder Physiotherapeutinnen und Männer die Starchoreografen und Ballettdirektoren.“ Und ihre Kollegin Eva Borrmann sagt aus dem Bauch heraus: „Männern wird Genie unterstellt und Frauen müssen sich immer erst entwickeln.“ Mit dem sehr strengen Körperbild ist der Tanz trotz vieler Impulse insbesondere aus der freien Szene heute immer noch wenig inklusiv. Das Alter und somit auch das Verhältnis der Generationen spielen hier noch einmal eine besondere Rolle.
Mit spätestens 40 ist alles vorbei – Die Altersgrenze und das Leben danach
„Ich bin jetzt 27 und habe in dieser Spielzeit meine erste richtige Protagonistinnen-Rolle“, freut sich Melissa Gutierrez. „Aber ich werde sehr oft angesprochen, dass das eigentlich schon alt sei, dabei fühle ich mich überhaupt jetzt erst reif dafür.“ Die Befragten sind sich alle einig, dass junge Tänzer:innen technisch-körperlich mehr leisten können, es aber eigentlich künstlerisch anspruchsvoller wird, wenn innere Reife und Erfahrung dazukommen. „Das Publikum will aber vielleicht einfach junge Körper und die damit verbundene Perfektion sehen“, mutmaßt Eva Borrmann und das verursacht wie Wagner Moreira beschreibt eine Art subtilen Glaubenssatz, der nach dem Übertreten der Altersgrenze täglich anklopft: „Du darfst hier nicht mehr sein.“ Dabei geht das an der Realität vorbei und gerade das Publikum müsste es doch anziehen, „wenn Choreographen eine größere Altersspanne von Tänzern einsetzen würden. Genau wie beim Fernsehen oder beim Film ist es für die Handlung interessanter, wenn die Charaktere ein ganzes Leben umfassen“, moniert Hannah Teutscher. „Die Maxime für mich war immer, mein Ensemble möglichst divers aufzustellen, um ein möglichst diverses Publikum zu erreichen“, sagt der Regensburger Tanzchef. Susanna Curtis, selbst auch an Diversität auf der Bühne interessiert und mit EveryBody Begründerin einer mixed-abled Tanzkompanie in Nürnberg, bezweifelt dies allerdings auch ein wenig: „Ich habe vor Jahren auf der Tanzplattform mal eine Aufführung des Dance On-Ensembles gesehen, eine der Pionierkompanien in Sachen Tanz und Alter, die hauptsächlich mit Tänzer:innen zwischen 40 und 50 arbeiten. Und beim Verlassen des Saals habe ich wirklich von zwei jungen Frauen aus dem Publikum O-Ton gehört: Boah, die sind jetzt aber schon krass alt gewesen. Das Bild vom Tanz als junger Kunst ist schon sehr in den Köpfen verankert.“ Und es gibt sie ja tatsächlich auch, die körperlichen Einschränkungen, wie Susanna Curtis fortführt: „An manchen Tagen stehe ich auf und alles tut weh. Dann muss ich mich schon zusammenreißen. Ich investiere viel Zeit in ausgiebiges Aufwärmen und tägliches Training. Das müssen die Jungen nicht immer. Aber ich hatte auch das Glück eben Zeit meines Lebens nicht in einer festen Kompanie, einem festen Theater zu sein, wo ich aufhören musste. Ich konnte mich fragen, was ich von meinem Körper will. Und ich wollte dranbleiben, so lange es Spaß macht, denn Tanz muss Spaß machen.“ Für Hannah Teutscher und Wagner Moreira ist aus einem der typischsten Gründe mit Mitte 30 und Anfang 40 mit der aktiven Tanzkarriere Schluss: Einer Hüftverletzung. „Ich beschloss, dass es besser für mich war, aufzuhören. Es war ein harter Übergang, und obwohl ich wusste, dass er unvermeidlich war und ich mich jahrelang mental darauf vorbereitet hatte, traf es mich wie ein Schlag. Ich hatte nicht wirklich erkannt, wie sehr der Tanz in mein Selbstverständnis eingebettet war, bis er nicht mehr da war. Ich gründete mein Unternehmen Performance Fit Pilates in Nürnberg, in dem ich normale Menschen“, Hannah Teutscher schmunzelt, „also Nicht-Tänzer durch Pilates, Barre und Fitness trainiere, um ihnen die Freude an der Bewegung zu vermitteln, die ich durch den Tanz erfahren habe.“ Auch Wagner Moreira beschreibt seinen Umgang mit der Situation: „Das Pensum, das man als Tänzer am Stadttheater so hat mit 8 Stunden täglich und bis zu 6 Produktionen im Jahr, war einfach nicht mehr leistbar. Ich war froh, dass ich schon früh breiter aufgestellt war und auch immer schon als Pädagoge und Choreograf gearbeitet habe. Ich habe dann die Anregung, mich umschulen zu lassen, angenommen und den Master in Choreografie an der bekannten Palucca Hochschule in Dresden gemacht. Da war auch Kulturmanagement ein Fach. Dass ich danach wieder im Stadttheatersystem gelandet bin, ist schon verrückt. Ich sehe mich schon als innovativ und widerständig zum starren System. Aber die Pandemie hat da sicher auch noch mal was in Richtung Aufbruch bewegt.“ Melissa Gutierrez ist sehr optimistisch was ihr Altern anbelangt: „Ich bin noch absolut fit, hab vieles noch nicht getanzt und bin hochmotiviert, jetzt im Tanz richtig durchzustarten. Wenn meine Energie schwindet, kehre ich in den Sport zurück. Klingt zwar komisch, ist in meinem Fall aber absolut möglich. Ich bin nämlich Tieftaucherin und derzeit noch viel zu jung, um beispielsweise an einer Weltmeisterschaft teilzunehmen. Mein Herz schlägt noch zu schnell, da hat man in älteren Jahren mehr Erfolg. Aber auch als Tanztrainerin würde ich gerne arbeiten und jüngeren Generationen ein umfassenderes, gesünderes Verständnis von Tanz mitgeben wollen.“ Genau das wäre ein erstrebenswertes Ziel, wie auch Hannah Teutscher aus ihrem neuen Arbeitsalltag beschreibt: „Durch mein Studio und die Trainings mit Menschen zwischen 16 und 90 Jahren weiß ich jetzt, wie unglaublich der Körper sein kann und dass das Alter viel mehr als nur eine Zahl ist. Wir haben Leute in unserem Studio, die mit 73 Jahren fitter und körperlich belastbarer sind als manche Leute in ihren 20ern. Als junge Tänzerin wäre es inspirierend gewesen, das zu sehen.“ Und da sind wir beim Stichwort: Generationen. Wie gestaltet sich das Miteinander der teilweise nicht ganz so verschiedenen Lebensalter im Tanz?
Intergenerationaler Austausch
Auch in diesem Punkt sind sich die Befragten einig: Es gibt nicht genug Austausch zwischen den Generationen. Viel davon hat mit dieser teilweise unausgesprochenen Drucksituation zu tun, die Hannah Teutscher folgendermaßen beschreibt: „Viele Tänzerinnen und Tänzer versuchen nur, ihren begehrten Platz in der Kompanie als Solotänzer oder Principal zu behalten. Jedes Anzeichen von Alterung oder Verletzung muss versteckt werden, da sie oft durch einen jüngeren Tänzer ersetzt werden, wenn eine dieser "Schwächen" gezeigt wird. Leider kann dies zu einer verbitterten und neidischen Atmosphäre zwischen den verschiedenen Altersgruppen führen.“ Ihre junge Kollegin vom Theater Altenburg Gera nimmt dies ähnlich wahr und sieht die Verantwortung bei den Jungen: „Ich erlebe es schon so, dass sich die älteren Kolleg:innen aussortiert fühlen und die jungen als was Besseres. Ich finde das falsch. Wir lernen nicht genug voneinander und hören der Erfahrung nicht genug zu.“ Auch Wagner Moreira sieht ein oft überhebliches Verhältnis der „alten Schule“ gegenüber als problematisch an: „Ich fühle mich als Teil einer Zwischengeneration und will so was wie ‚alte Schule‘ oder ‚neue Generation‘ eigentlich gar nicht sagen, verlange einfach Respekt für und von beiden Seiten.“ Eva Borrmann wünscht sich auch mehr Zusammenarbeit zwischen jung und alt: "Ich habe es als Choreografin auch schon erlebt, dass ich gegen Vorurteile älterer Kolleg:innen ankämpfen musste: Da lag ein Was-will-mir-die-Junge-da-erzählen drunter und ich habe manchmal das Gefühl, da ist auch eine große Angst, man könnte ihnen etwas wegnehmen. Ich denke, man muss sich einfach in jedem Lebensalter wieder seinen Platz suchen.“ Und ihre Kollegin Susanna Curtis gibt zu: „Ja, ich schaue oft kritisch auf die Jungen, denke dann aber auch immer wieder: Wow, mit 25 warst du nicht so weit, Susanna. Dennoch nehme ich von den Jungen auch Hemmungen wahr, einfach mal zu fragen. Das soll nicht von oben herab klingen, aber ich habe wirklich viel Erfahrung und will nahbar sein und im Austausch bleiben.“
Tanz der Zukunft
„Aber was ich in all dem schon spüre ist auch eine starke Veränderung, die da gerade stattfindet, die von diesem perfekten Funktionieren wegführt und sagt: Habt ein Leben neben dem Tanz. Kunst kommt aus dem Leben, nicht aus der Kunst selbst. Das sehe ich positiv“, merkt Melissa Gutierrez an. Susanna Curtis bestätigt diesen gefühlten Wandel: „Ich finde es schon gut, dass heute genauer und mutiger hingesehen wird, im Sinne von Body-Positivity und einer woken Einstellung in Geschlechterfragen, aber auch im Hinblick auf Mindestgagen und Arbeitsbedingungen. Da war vieles früher grenzwertig, übergriffig und hat Tänzer:innen in die Selbstausbeutung getrieben, aber wir müssen auch vorsichtig sein, dass wir uns künstlerisch nicht einschränken und zu oft fragen: Darf man das eigentlich noch? Es muss in Balance bleiben. Ich wünsche mir die Selbstverständlichkeit, dass alle Körper dazu berechtigt sind, auf einer Tanzbühne zu stehen. Und ich will mich damit beschäftigen, wo Kunst und Gesellschaft heute stehen, mir aber trotzdem herausnehmen, das selbst bewerten zu dürfen und mich nicht verbiegen zu müssen. Ich will mich fragen dürfen: Will ich mitgehen oder bleiben, wo ich bin? Außerdem müssen diese lähmenden Grenzen zwischen intellektuellem zeitgenössischem Tanz und Unterhaltung weg. Es gehört alles dazu.“ Hier stimmt ihr Kollege Wagner Moreira ein. Er ist sich sicher, dass es weiterhin einer Umdeutung des Begriffes Tanz bedarf, „weg vom akademischen Verständnis, hin zu seiner Bedeutung als Grundbedürfnis. Tanz ist einfach überall. Das muss sich abbilden!“ Es ist auch das Verständnis, mit dem Pina Bausch arbeitete, deren Kunst fast ausnahmslos von allen Beteiligten im Gespräch als inspirierend und wegweisend für die eigene Biografie beschrieben wurde und die „gezeigt hat, dass Tanz zeitlos ist. Bei ihr sind alle Mitglieder der Kompanie mitgealtert und es wurden neue Formen von Virtuosität gefunden“, wie Eva Borrmann leidenschaftlich beschreibt. Ein Wandel der Wahrnehmung des Tanzes ist alles andere als einfach. Er verlangt auch das Aushalten von Ambivalenzen, denn so sehr „Konstrukte und Stereotype in Bezug auf Geschlecht, Rasse, Körperideale und Alter von denen Ballett durchdrungen ist, überwunden werden müssen“, wie Hannah Teutscher hofft, so sehr „sollten wir den Sinn für die Schönheit der klassischen Formen auch nicht gänzlich verlieren“, wie Melissa Gutierrez einfordert. Halten wir uns am besten an Pina Bausch: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren ...“