
Statt einer Fee zieht ein Philosoph die Strippen im Hintergrund; die Herzogin Anna Amalia Bibliothek geht erneut in Flammen auf und die Geister der Weimarer Klassik steigen wie Phoenix aus der Asche auf die Bühne. Wahre Liebe siegt über Missgunst, Eitelkeit und Täuschung. Schönheit, Bildung und wahrhaft empfundene Gefühle überwinden soziale Hürden. Das Märchen „Aschenputtel“ der Brüder Grimm – oder „Aschenbrödel“, wie es bei Ludwig Bechstein heißt – ist hinreichend bekannt. Dieser Stoff bildet auch die Grundlage für die Oper „La Cenerentola“ von Gioachino Rossini. Mit dieser Oper beweist der Komponist zum wiederholten Mal seine Meisterschaft in seinem Fach: 24 Tage benötigte Rossini für die Musik, während Jacopo Ferretti in lediglich 22 Tagen das Libretto schrieb.
Magische Momente versus rationale Spielführung
Für die Oper in zwei Akten greifen Rossini und Ferretti auf das Märchen „Cendrillon“ aus der Sammlung von Charles Perrault zurück. Doch aus dem Märchen wird eine satirische Gesellschaftskritik mit diversen Seitenhieben auf Standesdünkel und Klassenbewusstsein. In seinem Libretto befreit Jacopo Ferretti das Märchen von seinen magischen Elementen. Stattdessen zeichnet er ein scharfes Gesellschaftsporträt seiner Zeit. Geblieben ist die Ausgangssituation: Angelina, genannt Cenerentola (Aschenputtel) lebt bei ihrem Stiefvater Don Magnifico, dem verarmten Baron di Monte Fiascone, und dessen beiden Töchtern Tisbe und Clorinda. Diese lassen keine Möglichkeit verstreichen, die Stiefschwester zu erniedrigen.
Eines Tages kommt in dieses „traute Heim“ Alidoro. Er ist Philosoph und Erzieher des Prinzen Don Ramiro. Der Prinz ist auf Brautschau. Doch er wünscht sich eine Liebesheirat und will darum seine künftige Braut auf die Probe stellen. Sind es seine Macht, seine Position als Prinz und das damit verbundene äußere Ansehen, die ihn für seine potentielle Braut attraktiv machen? Oder würde sie ihn auch lieben, wenn er ein weniger angesehener Mann wäre? Für diese Probe verkleidet sich Alidoro als Bettler, Don Ramiro schlüpft in die Rolle eines Stallmeisters und sein Diener Dandini gibt sich als Prinz aus.
Als Alidoro im Heim von Don Magnifico und seinen Töchtern Tisbe und Clorinda ankommt, ignorieren diese den Bettler. Angelina hingegen nimmt sich seiner an. Bei der Bekanntmachung, dass alsbald Don Ramiro kommen wird und auf Brautschau ist, geraten alle Mitglieder des Hauses in helle Aufregung. Bei dessen Ankunft unternehmen Tisbe und Clorinda alles, um die Aufmerksamkeit und das Interesse des vermeintlichen Prinzen zu wecken. Angelina hingegen verliebt sich in den Stallmeister, der seinerseits von der jungen Frau hingerissen ist. Die Aufregung steigt noch weiter, als Don Magnifico und seine Töchter zu einem Ball eingeladen werden, den der Prinz veranstaltet. Für Angelina gilt diese Einladung nicht. Doch Alidoro weiß Mittel und Wege, um dies zu umgehen. Statt einer guten Fee zieht hier der Philosoph die Strippen im Hintergrund.
Angelinas Wandlung vom Aschenputtel zur wunderschönen Prinzessin erregt die Aufmerksamkeit aller auf dem Fest. Don Ramiro erkennt in ihr das Mädchen, dem Unrecht widerfahren ist. Doch nun stellt Angelina ihrerseits den Prinzen auf die Probe. Ohne ihre wahre Identität preiszugeben, entschwindet sie und reicht ihm beim Abschied einen Schuh mit der Aufgabe, sie zu finden. Das Ende belohnt wahre Gefühle, Unschuld und Großherzigkeit: Don Rodrigo findet Angelina und erkennt ihre wahre Liebe zu ihm. Don Magnifico und seine Töchter gehen leer aus und erfahren dennoch die Güte der jungen Prinzessin, die ihnen vergibt.
Turbulentes Sozialexperiment
Opernregisseur Roland Schwab gibt diesem turbulenten Sozialexperiment eine zusätzliche Note. In seiner Inszenierung verbindet er den Klassizismus der Weimarer Zeit mit unserer Gegenwart. Explizit nimmt er Bezug auf den Brand, der vor zwanzig Jahren die Herzogin Anna Amalia Bibliothek zerstört hat. Erneut gehen Bücher, Bilder und Büsten in Flammen auf. Doch der Brand löst die Geister jener Zeit aus ihrer Erstarrung. Johann Wolfgang von Goethe gibt sich in der Gestalt des Philosophen und Erziehers Alidoro die Ehre; Herzog Carl-August als sein Schüler und Freund schlüpft in die Rolle des Don Ramiro. Zeiten überschneiden sich, Ideale werden auf den Kopf gestellt und Maskerade und Rollenspiel dominieren den Verlauf der Geschichte vor der imposanten Kulisse des Rokokosaals, jenem Pantheon der Weimarer Klassik.
2022 inszenierte Roland Schwab „Tristan und Isolde“ in Bayreuth. Mit „La Cenerentola Aschenputtel“ am Deutschen Nationaltheater in Weimar ist dem Opernregisseur eine temporeiche Inszenierung gelungen, die nun ohne Korrekturen in den neuen Spielplan aufgenommen wird. Premiere ist am 5. Januar 2025 und es folgen sieben weitere Aufführungen.
Weitere Informationen unter www.nationaltheater-weimar.de.