Eine glassplitternde Erfahrung. Als Eric Howden, Gründer des kanadischen Musikprojekts raised by swans, das Hotel verlässt, geht eine Scheibe zu Bruch, als das schwere Holzportal zufällt. „Jetzt habe ich gleich meinen Standort bestimmt“, sagt er lachend und macht sich auf zu einer ersten Bambergerkundung.
„Standortbestimmung“ lautete das Thema der fünften Ausgabe des Literaturfestivals Bamberg liest. Die beteiligten Künstler sollten nicht nur über ihre Standorte und Standortsuchen sprechen, sondern auch den Standort Bamberg mit ihrer Kunst ausloten.
So gaben Nachwuchsschriftstellerinnen rätselhaften Kunstwerken aus dem Historischen Museum eine Geschichte und damit einen neuen Standort. Die Geschichten wurden zum fünften Mal in einem von Reimar Limmer aufwändig gestalteten Buch veröffentlicht. Tandemschreiben heißt dieses Talentförderkonzept, denn die jungen Autorinnen wurden über Monate im Tandem von renommierten Kollegen wie Gunther Geltinger (Moor/Surhkamp) und Christoph Poschenrieder (Mauersegler/Diogenes) betreut.
Lyriktraum im Raum
Bekannte Bildende Künstler aus Bamberg wie Christiane Toewe und Adelbert Heil haben hingegen mit Gedichten gearbeitet und im Dialog mit den Texten Kunstwerke geschaffen, die über den gesamten November im Alten E-Werk ausgestellt wurden. Dieser Lyrikraum gab dem Gebäude einen neuen literarischen Standort, flankiert von Live-Veranstaltungen unter anderem mit Bachmannpreisträgerin Nora Gomringer und der Jazzcombo PLOT aus Leipzig.
Auch das Klinikum und das Naturkundemuseum wurden mit Literatur neu bestimmt: So las Bestseller-Autor Kristof Magnusson aus seinem Arztroman und diskutierte mit der Ärztin und Autorin Vera Kühne über die medizinische Versorgung in den Aufnahmestätten für Flüchtlinge in Schweinfurt und in Bamberg.
Überhaupt der politische Standort: Mit einer Lesung aus Navid Kermanis aufwühlenden patriotischen Rede Vergesst Deutschland! wurde zusammen mit dem ETA Hoffmann Theater die Frage untersucht, was überhaupt „deutsch“ sei und wie es sein kann, dass rechtsradikale Strömungen nicht mehr nur am Rande unserer Gesellschaft, sondern in deren Mitte wuchern.
„Die einzelnen Veranstaltungen sollen wie Puzzleteile ein Gesamtbild ergeben, emotionale und gedankliche Anstöße geben“, sagt Dr. Martin Beyer, künstlerischer Leiter des Festivals. Die Künstlerinnen und Künstler werden nach dem übergreifenden Konzept ausgesucht, wichtig ist dem Festivalleiter das Zusammenwirken regionaler, nationaler und internationaler Künstler. „Wir sind ein Festival, das nachhaltig aus der Stadt erwachsen ist und jedes Jahr mit anderen städtischen Akteuren wie dem Theater oder der Villa Concordia kooperiert. Wir werfen unsere Fangnetze mittlerweile aber in der ganzen Welt aus“, sagt Beyer.
Womit wir wieder beim Kanadier Eric Howden wären.
Ich suche nicht – ich finde
Howden traf auf die isländische Lyrikerin Sigurbjörg Þrastardóttir im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia. Beide sprachen zunächst mit Direktorin Nora-Eugenie Gomringer unter dem Motto „Ich suche nicht – ich finde“ darüber, was es bedeutet, sich als Künstler einen besonderen Ort zu suchen, um dort ein Kunstwerk zu beginnen oder ein Begonnenes abzuschließen. Þrastardóttir lebte für 11 Monate in der Villa als Stipendiaten und genoss einen Ort, der nur dafür da ist, um Künstler zu beherbergen. Eric Howden hingegen zog es in die isländische Einöde, in das mystische Tal Öxnadalur, um dort zu seiner Musik zu finden. Die Lebenslinien beider kreuzten sich an diesem Abend in einer bis auf den letzten Platz gefüllten Villa Concordia – die Kostproben beider Künstler, ob Wort oder Klang, waren berauschend.
Hinterher trafen sich Freunde beider Künstler, die eigens aus der Ukraine, Litauen, Italien oder England für diesen Abend angereist waren, an einem Tisch und diskutierten, bis wieder eine Glas zu Bruch ging. Bamberg kann eine glassplitternde Erfahrung sein.
Sigurbjörg Þrastardóttir und Eric Howden blieben für jeweils eine Woche in Bamberg, auch der beteiligte brasilianische Lyriker Ricardo Domeneck mehrere Tage. Die Künstler sollen nicht einfach einschweben, das tun, was sie immer tun, und wieder wegfahren. „Sie sollen in der Stadt Kerben hinterlassen – auch das zeichnet Bamberg liest gegenüber anderen Festivals aus“, sagt Martin Beyer.
Den Anfang machte übrigens Tex Rubinowitz, Tausendsassa und Humorkünstler aus Wien. Er verweigerte sich im Großen Saal des ETA Hoffmann Theaters gekonnt jeder Standortbestimmung. Als Autor wollte er auf der Bühne nicht lesen, sein Roman ist nicht unbedingt ein Roman, eine Heimat kennt er nicht, außer vielleicht die des guten Musikgeschmacks. Mit einer Standortverweigerung zu beginnen, ein mutiges Vorhaben, das aber voll aufging.
Mit Bamberg liest hat die Stadt in den vergangenen fünf Jahren ein Festival gewonnen, das außergewöhnlich und in seiner Entwicklung noch lange nicht am Ende der Fahnenstange angekommen ist. Es hat einen festen Platz in der Kulturlandschaft Bayerns gefunden.
Copyright Fotos:
Eric Howden von raised by swans, Foto © Stephan Obel
Rubinowitz auf der Bühne, Foto © Stephan Obel