Man stelle sich folgende Szenerie vor: eine reiche ältere Dame wird eines Abends in ihrer Glasgower Wohnung überfallen. Als das Dienstmädchen von ihren Besorgungen zurückkehrt, können sie und ein Nachbar, der kurz zuvor dumpfe Laute vernommen haben will und nun kommt, um nach dem Rechten zu sehen, nur noch den Tod der alten Frau feststellen. Gestohlen wird lediglich eine Brosche, weshalb die Polizei einem Mann auf die Spur kommt, der ein solches Schmuckstück kurz nach der Tat in einem nah gelegenen Pfandleihhaus versetzt hatte. Anschließend begibt er sich auf große Fahrt nach Amerika. Passt doch alles wie die Faust aufs Auge – der Typ MUSS der Täter sein!
Nun lehrt uns aber der wöchentliche Sonntagskrimi folgendes, nämlich, dass nichts so ist, wie es scheint. Und selbst diejenigen, die ihre Sonntagabende nicht vorm Fernseher verbringen, wissen Bescheid, weil das eine Tatsache ist, die spätestens seit der Erfindung von Sherlock Holmes zum detektivischen Basiswissen gehört. Und – um Conan Doyles Kunstfigur kommt man ja nun schwerlich herum.
Der Unterschied zwischen dem eben erwähnten Tathergang und einem Sherlock Holmes-Fall besteht in Fiktion und Nichtfiktion. Richtig kombiniert heißt das, dass es die alte Dame, das Dienstmädchen, den Nachbarn und den vermeintlichen Mörder wirklich gab. Und letzterer, ein deutschstämmiger Jude aus Buchmacherkreisen, hätte sich sicher gewünscht, dass dieser Wahnsinn nicht real ist. Die Ermittlungen in dem Geschehen gingen 1908 als „Der Fall Oscar Slater“ in die britische Kriminal- und Justizgeschichte ein, weil sie an Wirrnis und Absurdität kaum zu übertreffen sind und Sir Arthur Conan Doyle selbst, der sich zeit seines Lebens auch privat mit Aufsehen erregenden Justizfällen beschäftigte, um ein Aufklären des Falles zu Gunsten des (zum Tode) Verurteilten bemühte. Dieses Bemühen gipfelte in der Veröffentlichung mehrere Abhandlungen zum Thema.
Nach alter Conan Doyle-Manier lässt die Beschreibung des Falls, die just in diesen Tagen in deutscher Erstausgabe im Morio Verlag erscheint, kein Detail aus. Als Holmes-Fan weiß man genau, dass trotz der unerbittlich waltenden Akribie des Autors niemals auch nur ein Funken Langeweile aufkommt. Und das gilt auch – im wahrsten Sinne des Wortes – in diesem speziellen Fall, der vom Herausgeber Michael Klein zusammengetragen, schlüssig übersetzt und um ein Nachwort ergänzt wurde (– endlich!). Müßig zu erwähnen, dass den Leser auch diesmal scharfsinnige Schlussfolgerungen erwarten, die ihn nicht selten mit dem Kopf schütteln und gelegentlich auch schmunzeln lassen.
Arthur Conan Doyle: Der Fall Oscar Slater, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Klein, Morio Verlag, Deutsch, 160 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-945424-27-8