„Zum Raum wird hier die Zeit“, das berühmte Zitat aus Wagners „Parsifal“-Libretto, scheint als Motto für David Hermanns neue Inszenierung des „Bühnenweihfestspiels“ an Nürnbergs Staatsoper gedient zu haben. Zeitlich gefüllt wird nämlich der Theaterraum selbst, ja er wird geradezu erobert durch diverse „Auslagerungen“ des Bühnengeschehens. Da tobt eine Kundry durch sämtliche Ränge und Logen, da zwängt sich ein Protagonist durch die erste Parterre-Reihe, da singt der Kinderopernchor des Staatstheaters von der letzten Reihe des dritten Ranges, da schaut ein Parsifal teilnahmslos von der Seitenloge auf das Geschehen, und quasi vom Plafond wird eine riesige Leinwand über den ganzen Zuschauerraum gezogen, um auf der Bühne jenen Holzverschlag einzuwickeln, der wohl für die Gralsburg steht.
Hermann und sein Bühnenbildner Jo Schramm haben sich für den ersten und den dritten Akt des „Parsifal“ dieses wie eine Waldhütte anmutende Gebilde ausgedacht, was sich als praktischer Einfall erweist, denn geringe Modifikationen reichen für eine sinnfällige Dramaturgie. Dazu steht üblicherweise der zweite Akt, also die Klingsorwelt, in scharfem Kontrast. In Nürnberg hat man sich der wechselhaften Geschichte des eigenen Hauses erinnert und diesen Akt quasi als Zitat einer Aufführung aus dem Jahre 1925 gestaltet. Und damit nicht genug, zerbirst zeitgleich mit dem Ende des Klingsorreiches auch die alte Pracht jenes Opernhauses aus dem Jahre 1905, dessen Zuschauerraum 1935 bekanntlich vom GröFaZ zerstört wurde.
Diese selbstbezügliche Inszenierungsidee hat ihre ortsauthentischen Reize, auch wenn sie keine wichtigen dramaturgischen Folgen zeitigt. Dem ersten Akt wurde die Überschrift „Weihspiel“ verliehen, was natürlich mit noch triftigeren Gründen auch für den letzten Akt gelten könnte. Doch der firmiert ganz banal unter dem Titel „Endspiel“, was als durchaus pfiffige Verharmlosung des Finales verstanden werden kann. Das wartet nämlich mit einer Überraschung auf, die man nach einer weitgehend librettogetreuen Erzählung so nicht erwarten konnte: Kundry enthüllt den Gral, assistiert von einem dunkelhäutigen Gralsknappen. Mehr Diversität geht nicht.
Überhaupt, diese Kundry, sie ist omnipräsent in dieser Inszenierung, sei es als in Lumpen gehüllte Randexistenz, sei es als gefallener Engel mit schwarzen Flügeln. Auch ihr Mentor Klingsor taucht früh auf und nimmt wie nebenbei das Gralsgefäß in Empfang, assistiert von Fledermauswesen. Die Gegenwelt zur Gralsritterschaft ist mithin überrepräsentiert, und das aus guten Gründen, denn selbst der spätere Held Parsifal besitzt nicht mehr die Kraft und Machtfülle, die wir ihm gewohntermaßen zutrauen müssen. Taucht er im dritten Akt aus der mehrjährigen Versenkung wieder auf, dann nicht allein, sondern in Begleitung eines speerbewaffneten Septetts, und Gurnemanz muss sich erst einmal orientieren, um den Richtigen – oder die Richtige, denn es herrscht Geschlechtervielfalt – zu finden. Kundry wird von dieser Truppe umringt und vorsichtshalber auch gesegnet, kann sich aber jenes Lachen nicht verkneifen, das die Ursache für ihr Schicksal war (zur Erinnerung: sie hatte den Heiland verlacht). Dann geht sie ihrer schwarzen Flügel verlustig, denn der passt kaum noch zum bevorstehenden Karfreitagszauber.
Nachdem Amfortas das Tuch von Titurels Grab gerissen und seine Weigerung einer abermaligen Gralsenthüllung ausgesprochen hat, ahnt man schon, dass es nun einer besonderen Kraftanstrengung bedarf, um die Speerwunde des Gralskönigs zu schließen. Erlösung wird zu einer gemeinsamen Tat, sieben Speere machen’s möglich, und Kundry kann zur Enthüllung antreten. Der Gral wirk wie eine Energie spendende Solaranlage. Das Schlussbild zeigt die goldgelockten Gralsknappen bzw. -ritter als ergriffene Kinderschar vor der neonbeleuchteten Holzhütte mit dem Heiligtum. Von Titurels Leichnam, der sich entblättert hat und tranchiert wird, darf sich jeder noch eine Scheibe mitnehmen.
David Hermanns Inszenierung wartet mit originellen Einfällen auf und wirkt wie eine sehr stimmige Erzählung, selbst da, wo sie die originale Vorlage bewusst ignoriert. Die Interventionen von Dramaturg oder Inspizient im Klingsor-Akt, wo es um Regieanweisungen und deren Befolgung (durch Kundry) geht, wirken ganz in diesem relativierenden Sinne. Das ist mehr als nur eine Mode im derzeitigen Regiestil.
Über die Musik ist – wie in letzter Zeit so oft in Nürnberg – nur das Beste zu sagen, angefangen mit dem Orchester, das ohne Ermüdung die Riesenpartitur durchpflügt. Rolang Böer beginnt recht verhalten, findet dann aber stets zu den angemessenen Tempi. Bei den Männerstimmen beeindruckt von Beginn an der überragende Patrick Zielke als Gurnemanz, der diese Rolle darstellerisch und mit seiner Stimmgewalt ideal füllt. Tadeusz Szlenkier als Parsifal, Wonyong Kang als Klingsor und Jochen Kupfer als Amfortas sind ebenfalls überzeugende Besetzungen. Knappen wie Blumenmädchen vervollständigen eine insgesamt sehr niveauvolle gesangliche Darbietung. Anna Gabler als Kundry in der Premiere (Almerija Delic ist die Alternativbesetzung) spielt in der langen Aufklärungserzählung des zweiten Aktes ihre dramatischen Tugenden in beeindruckender Weise aus, unterstützt von ihrer modulationsfähigen Stimme, die von schönem Timbre in der Tiefe bis zu schneidender Höhe reicht. Fazit: die Nürnberger haben mit diesem „Parsifal“ Ungewöhnliches gewagt – und gewonnen.