Wie oft haben wir uns schon geärgert über Produktionen aus dem Regietheater-Bereich, in denen nicht das bearbeitete Werk im Vordergrund stand, sondern die recht persönlichen Obsessionen eines Regisseurs. Inszenierung als Ego-Trip. Und nun das: eine Regietat von stupendem Einfallsreichtum, die fast alles auf den Kopf zu stellen scheint, aber stets werkdienlich bleibt und deshalb auch am Schluss auf einhellige Zustimmung, ja Begeisterung, stößt! Zu sehen war das – die Neuinszenierung von Richard Wagners „Tannhäuser“ – zum Auftakt der Bayreuther Festspiele, und wer dabei war, dem schwirren die Bilder noch immer im Kopf herum.
Tobias Kratzer hat fertig gebracht, was noch keiner in dieser Radikalität umzusetzen wagte, nämlich die Welt der Venus völlig neu zu erzählen. Das beginnt gleich während des Vorspiels mit einem filmischen Road-Trip des Venus-Clans durch oberfränkische Gefilde. Mit von der Partie im Citroen-Lieferwagen sind der als Clown verkleidete Tannhäuser, die akrobatische Venus, die Kopie des Blechtrommlers Oskar Matzerath und der exotische Dragqueen-Gast Le Gateau Chocolat. Die Hippietruppe treibt es heftig: Benzin-Klau, Kreditkartenbetrug und zum Schluss sogar ein Polizistenmord stehen auf der Liste ihrer Schandtaten.
Sich von solch einer kurzweiligen Gang zu trennen fällt nicht leicht, aber Wagners Libretto will es halt so, weshalb Tannhäuser in sein früheres Sängerleben zurück muss und dabei gleich am Grünen Hügel aussteigt. Dort geht es in einer betont konventionellen Inszenierung weiter, doch im filmischen Oberstübchen treiben die Clan-Mitglieder weiter ihr Unwesen, denn sie haben sich nicht abschütteln lassen und erkunden nun den Backstage-Bereich des Bayreuther Festspielhauses. Das wird in Echtzeit übertragen und vermittelt dem Publikum amüsante Einblicke in das Leben und Wirken hinter der Bühne. Man denke nur an die vielsagenden Gesten, wenn die Kamera an den Photos von Christian Thielemann und James Levine vorüber zieht…
Kratzer arbeitet den Gegensatz zwischen Venusberg und Wartburg als Alternative von anarchisch-freier und bürgerlicher Existenz heraus. Das ist natürlich wesentlich mehr als die geläufige Kontrastierung von Keuschheit und Erotik. Was die Triebunterdrückung auf der einen Seite bedeutet, zeigt eine Szene im dritten Akt, wo sich Elisabeth für eine kurze Nummer dem nun im Clownskostüm auftretenden Wolfram hingibt. Welch ironischer Kostümtausch! In der ersten Pause haben die Venus-Begleiter ihren Auftritt im kleinen Weiher am Fuße des Grünen Hügels. Oskar Matzerath alias Manni Laudenbach kurvt im Schlauchboot durch’s Wasser, während Le Gateau Chocolat Chaplin und Wagner singt.
Das Trio infernal hat noch manch andere Streiche drauf, wird aber auch einmal deutlich in die Schranken verwiesen, wenn es in der Kirchenszene aus dem Bild treten muss – Platzverweis! Der derbste, aber auch köstlichste Scherz ist die Inbesitznahme des Opernhauses per Leiter. Wer’s auf dem Video nicht glaubt, sieht dann in der Pause die Leiter tatsächlich am Balkon der Prominentenloge stehen. Trotzdem sinken diese pfiffigen Regieideen nie in Richtung Klamauk ab, alles hat seinen wohlbegründeten Sinn bzw. Hintersinn. Allerdings besteht durchaus die Gefahr, dass durch die Strategie, alle Vor- und Zwischenspiele mit Videos zu füllen, ein Übermaß an Ablenkung bewirkt wird.
In musikalischer Hinsicht lief beim Debüt von Dirigierstar Valery Gergiev in der Premiere einiges schief, doch die zweite Aufführung (bei der Angela Merkel abermals zugegen war) konnte überzeugen. Stephen Goulds Bravour in der Rolle des Lohengrin ist bewundernswert, da gibt es keine Abstriche. Die Venus der kurzfristig eingesprungenen Elena Zhidkova ist der Knüller des Abends: welch dynamischer Auftritt, welch feuriger Gesang, diese Frau ist ein Vulkan! Lise Davidsen als Elisabeth kann da schauspielerisch nicht mithalten, ist aber gesanglich auch eine willkommene Bereicherung, die enthusiastisch gefeiert wurde. Fazit: diesen „Tannhäuser“ muss man gesehen haben, weil er viel versprechende Inszenierungswege eröffnet, keinen Moment langweilt und trotzdem dem Ernst der Sache gerecht wird.