
Neue Sonderausstellung im Georg Schäfer Museum Schweinfurt: Lockruf der Décadence. Deutsche Malerei und Bohème 1840-1920
Für die menschliche Natur ist alles Neue und Ungesehene nur schwer verdaulich – davon kann wohl vor allem die Riege der Künstler ein Lied singen. Zuerst zeigt sich Abwehr gegenüber dem Gesehenen, dann Skepsis, gefolgt von Duldung, die sich (hoffentlich) irgendwann in Toleranz und Akzeptanz umwandelt. Sehgewohnheiten formen sich nur langsam.
L’art pour L’art, also „Kunst um der Kunst Willen“, galt längst nicht immer als ein so selbstverständliches künstlerisches Prinzip, wie es heute der Fall ist. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begehrten Literaturschaffende und bildende Künstler gegen die alten Konventionen auf, in ihren Werken nur das Schöne und Erbauliche oder gar Idealisierte darzustellen.
Wie leitet man ein Umdenken am besten in die Wege? Indem man provoziert. Und das tat man mit den malerischen Mitteln der den Künstlern öde gewordenen Historienmalerei, aber auch mit jenen des Symbolismus‘ und Jugendstils. Diese Phase der Provokation und beginnenden Emanzipation in der Kunst nahm seine Anfänge wie so oft in Paris. Charles Baudelaire („Die Blumen des Bösen“) und Théophile Gautier, beide zugleich Schriftsteller und Kunstkritiker, propagierten zu Beginn der 1860er Jahre eine neue Ästhetik der scheinbaren Hässlichkeit und stellten sich damit gegen die gesellschaftlichen Leitbilder und Normen wie Sittlichkeit und Moral. Die saturierte, „keimfreie Fassadenkultur“ sollte bröckeln, das „bürgerliche Immunsystem“ (Jürgen Wertheimer) erschüttert werden. Die Chance zu etwas völlig Neuem sah man in den Motiven des moralischen Verfalls und der Dekadenz.
Diese „Umwertung aller Werte“ (Friedrich Nietzsche) schwappte auch nach Deutschland und führte letztlich zu einem neuen Verständnis von Ästhetik in der Kunst. Dafür benötigte es aber zunächst Ausdauer und Muße. Viele deutsche Künstler wie z.B. Hans Makart und Franz von Stuck fanden wie ihre Künstlerkollegen in Frankreich ebenfalls Gefallen an den neuen Ideen und Motiven und provozierten in ihren Werken bewusst Skandale. Um Zensur zu umgehen, betitelten die Künstler ihre Werke oft sinnentleert. Die Kritik blieb aber natürlich trotzdem nicht aus. Das ging sogar so weit, dass erstmalig von „Entartung“ die Rede war und sämtliche Künstler zu psychisch Erkrankten und Degenerierten vorverurteilt wurden. Die Provokation war also mehr als nur gelungen.
In der Forschung wurde der so genannten Décadence, als die man die kunstgeschichtliche Phase vor 1900 – die Grenzen zum Fin de Siècle sind mitunter fließend – bezeichnet, bisher kaum Platz eingeräumt. Als Epochen- oder Stilbegriff ist er weithin gar nicht gebräuchlich. Das mag daran liegen, dass die Décadence-Bewegung eben eher geistiger als formaler Natur war und eine schriftlich fixierte Form für die bildende Kunst nicht existierte.
Das Georg Schäfer Museum wagt als eines der ersten Museen daher den Versuch, den Begriff der Décadence genauer zu definieren. Die Macher der Ausstellung „Lockruf der Décadence. Deutsche Malerei und Bohème 1840-1920“, die noch bis zum 8. Januar 2017 unter der Leitung von Dr. Wolf Eiermann zu besichtigen ist, begreifen die neue Sonderausstellung als Einführung in ein komplexes und nahezu unerforschtes Kunstfeld. Um einen Überblick zu schaffen und das Publikum an die Bilderwelt der Décadence und die Ideen dahinter heranzuführen, wurden viele Werke, vor allem aus Deutschland, zusammengetragen. Oft wird gar nicht sofort klar, was hier zu sehen ist, denn viele der gezeigten Bilder greifen, wie gesagt, alte Bildmotive auf und sind z.B. als Historienbilder „getarnt“. Die Provokation findet zumeist auf der Metaebene statt.
Der Besucher muss seinen Blick also erst einmal schweifen lassen, um ihn anschließend schärfen zu können. Ausgestellt sind 135 zum Teil großformatige themenbezogene Gemälde und Zeichnungen von 64 Künstlerinnen und Künstlern, darunter befinden sich zahlreiche Leihgaben aus europäischen Sammlungen. Auch die Literatur, der in der Entwicklungsgeschichte der Décadence eine entscheidende Rolle zukommt, wird thematisiert. Gegliedert ist die Ausstellung in einzelne Kapitel wie z. B.: Deutsche Verfallsvorstellungen; Orgiastische Welten: Bacchanten, Satyrn und Nymphen; die Antike als Vorbild für die Darstellung des Verfalls; Germanische Sittlichkeit contra römische Dekadenz; Aktmodelle: Vom Atelier zur Sommersonne; Sünde und Salome; Theatervergnügen; Feinnervig – das Fin de Siècle.
Zum besseren Verständnis ist sicher auch ein Blick in den zur Ausstellung erschienenen und reich bebilderten Katalog zu empfehlen, der das Phänomen Décadence in einigen Aufsätzen und Beiträgen von Dr. Wolf Eiermann, Dr. Helmuth Mojem (Schiller-Nationalmuseum Marbach), Prof. Dr. a. D. Reinhard Steiner (Universität Stuttgart) und Prof. Dr. Jürgen Wertheimer (Universität Tübingen) näher beschreibt. Die Abbildungen zeigen Werke von Künstlern wie Beardsley, Begas, Behrens, Böcklin, Corinth, Couture, Feuerbach, Glaize, Greiner, Gulbransson u. v. m.. Ferner finden auch ausstellungsbegleitende Führungen statt, die den Besucher dort abholen, wo Fragen entstehen. Interessant dürfte es in jedem Fall werden, denn die Décadence-Bewegung gilt als wegbereitend für viele Kunstgattungen der Moderne.