Beim Festival d’Aix-en-Provence war sie bereits als Neuproduktion gelaufen, ebenso bei den anderen Kooperationspartnern in Lyon und Adelaide, nun kam sie endlich auch nach Berlin ins Schillertheater, dem derzeitigen Spielort der Komischen Oper: Barrie Koskys Inszenierung von „Der goldene Hahn“, jene burleske Oper von Nikolai Rimsky-Korsakow, deren Aufführung der Komponist wegen deutlich zarenkritischer Partien nicht erleben durfte.
Das dreiaktige Werk mit seiner außergewöhnlichen musikalischen Substanz wurde zwar von der Musikgeschichte nicht vergessen, ist aber bis heute aus kaum begreiflichen Gründen auf den Spielplänen immer noch unterrepräsentiert. Allerdings ist eine Aufführung in russischer Sprache unbedingt geboten – was immer noch ein Handicap darstellt. Insofern ist es ein glücklicher Umstand, dass in Berlin das Aussperren russischer Künstler kein Thema ist.
Am Coburger Landestheater konnte man vor gut einem Jahr eine gelungene Inszenierung von Bernhard F. Loges sehen, allerdings in der deutschen Textversion von Heinrich Möller vom Anfang des 20. Jahrhunderts. In Berlin wird russisch gesungen. Die Komische Oper hat ein erstklassiges Sängerensemble engagiert, in dem nicht nur die Protagonisten brillieren, sondern auch die Nebenrollen ausgezeichnet besetzt sind. Das schöne Klischee von der Schwärze russischer Bässe wird von Alexander Roslavets (in der Rolle des Königs Dodon) auf’s Schönste bestätigt. Und wer würde zögern, in der fabelhaften Ksenija Proshina eine Doppelgängerin Anna Netrebkos zu wähnen?
Das wie stets sehr lesenswerte Programmbuch der Dramaturgie kann und will eine durchgängige Sinnhaftigkeit dieser Oper nicht demonstrieren. Das wäre auch vergeblich bei einer „Märchen-Fabel“ – so nannte der Komponist sein 1906/07 entstandenes Werk, übrigens sein letztes musikdramatisches Opus. So schleierhaft der tiefere Sinn des Plots (nach dem gleichnamigen Märchen von Alexander Puschkin) sein mag, so klar ist die Absicht angesichts der Zeitumstände: nach dem „Petersburger Blutsonntag“ beschloss der eher liberal gesinnte Rimsky-Korsakow, mit dem zaristischen System abzurechnen, und das von oben bis unten.
Neben dem faulen und genusssüchtigen Zaren gibt es unterwürfige Bojaren, missratene Zarensöhne, einen unfähigen General, einen Astrologen, eine aus dem Nichts auftauchende Königin und, natürlich, den „Goldenen Hahn“. Der wird szenisch von einer queer charakterisierten Daniel Daniela gespielt, aber gesungen aus dem Orchestergraben von Julia Muzychenko. Die Figur, beigesteuert vom Astrologen, spielt die Rolle des Warners angesichts eines fast ständig schlafenden Zaren.
Er wird dann allerdings ziemlich wach, als eine betörend schöne Königin von Schemacha auftaucht, quasi die femme fatale der Geschichte. Ksenija Proshina besitzt nicht nur eine wunderbare Stimme, die hier bis zum dreigestrichenen ’e’ reichen muss, sondern auch viel Ausstrahlung und ein Verführungspotenzial ohnegleichen. Dem verfällt Dodon natürlich sofort und merkt in seiner Verblendung gar nicht, dass die fremde Königin nur ihr Spielchen mit ihm treibt, ja sogar bekennt, sie wolle dem König das Reich stehlen.
Gegen Schluss wird es ein wenig faustisch: Der Astrologe erinnert den König daran, dass der ihm eine Belohnung für den goldenen Hahn versprochen hatte, und fordert nun seinen Tribut: die Königin von Schemacha. Dodon weigert sich und erschlägt den Astrologen, was dessen Zauberfigur, den goldenen Hahn, auf den Plan ruft. Der tötet den König, zurück bleibt ein ratloses Volk.
Bühne und Kostümierung sind in dieser Inszenierung von suggestiver Wirkung. Eine karge Steppenlandschaft mit einem verdorrten Baum, der dem Hahn als Ausguck dient, bleibt während der drei Akte unverändert. Der sich nach Schlaf sehnende König ist der Jämmerlichkeit einer langen Unterhose ausgeliefert, während die fremde Königin federgeschmückt und mit laszivem Auftritt die Blicke auf sich zieht. Als Dodon die virtuose Tanzperformance der vier Diener der Königin imitieren will, macht er sich komplett lächerlich. Das Volk bzw. die Soldaten erinnern mit ihren Pferdeköpfen an fernöstliche Reiterheere.
Für die Rahmenerzählung steht der Astrologe (James Kryshak), der natürlich nur im Märchenspiel sein Leben aushaucht, in Wirklichkeit aber als alter weißer Mann die Fäden zieht. Er und die Königin von Schemacha seien die einzigen Menschen in der Story, enthüllt er am Ende, der Rest sei Märchen. Auch diese Partie ist sehr anspruchsvoll, und die Vermutung liegt nahe, dass Rimsky-Korsakow mit einer Parallelität die Sonderstellung der beiden Personen verdeutlichen wollte: beide müssen sich hoch bis zum bereits erwähnten Spitzenton hinaufklimmen.
So geistreich und phantasievoll die Inszenierung Barrie Koskys auch sein mag, die faszinierendsten Momente dieses Abends rühren doch von der farbenreichen Musik her. Diese Partitur ist Richard Strauss at it’s best, bereichert freilich noch um jene exotischen Töne, die man aus Evergreens wie „Schéhérazade“ kennt. Der neue GMD der Komischen Oper, James Gaffigan, domestiziert diese fabelhafte Musik bis in die allerkleinsten Facetten auf höchst überzeugende und mitreißende Weise, wobei er sich auf ein wie immer minutiös eingespieltes Orchester der „Komischen“ verlassen kann. Zum Schluss ehrliche Ovationen. Das muss man gesehen, das muss man gehört haben!