Schon die ersten Tage zeigten, der Auftakt des Weimarer Kunstfestes ist gelungen. Nach dem Eröffnungsfest und -konzert am vergangenen Freitag begaben sich am Samstag die ersten Besucher auf Zeitreise durch „500 Meter Weimar“. Markus Fennert, Schauspieler am DNT, fungierte ab 15 Uhr als sogenannter Stadtbilderklärer (der DDR-Begriff für Stadtführer) und bekam dabei tatkräftige Unterstützung von Kollegin Anke Heelemann, die Fennerts Ausführungen mit Fotos und Diabetrachtern oder sogar Schallplatten aus ihrer Fotothek, die sie als rotes Rollköfferchen hinter sich herzog, untermauerte. 2 Stunden für 500 „gewöhnliche“ Meter Weimarer Wegstrecke klingen zwar viel, selten war eine Stadtführung jedoch so kurzweilig. Wohl vor allem deshalb, weil man nicht, wie normalerweise, hunderte Fakten rund um Goethe, Schiller, Herder und Wieland wiedergekäut bekommt, sondern eine wirkliche Zeitreise unternimmt, bei der ausgewählte Gebäude und Plätze lebendig werden, weil sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen. Anekdoten und individuelle Biografien tangieren historische Wendepunkte – das ist es wohl, was die Führung sowohl für den Kulturtouristen als auch für den alteingesessenen Weimarer, der seine Stadt aus einer anderen Perspektive repräsentiert sieht, so interessant macht. An den kommenden zwei Wochenenden (27.8., 28.8, 2.9., 3.9. und 4.9. jeweils um 15 Uhr) besteht erneut die Möglichkeit zur Teilnahme.
Ebenfalls am Samstag feierte das in Theater- und Medienkreisen umstrittene Stück „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ des kroatischen Regisseurs Oliver Frljic Deutschlandpremiere. Unter den bisherigen Kritiken nach der Uraufführung bei den Wiener Festwochen im Mai 2016 ist alles vetreten: vom totalen Verriss bis hin zu wohlwollendem Jubel. Ausgangspunkt des Stücks ist Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands“, das auf der Frage fußt, wie es der Arbeiterklasse gelingen kann, sich zu emanzipieren und gegen bestehende Ordnungen aufzubegehren – feinste Kapitalismuskritik sozusagen, die die Großfunktionäre in Zeiten des faschistischen Diktats als Aufhetzer der Arbeiter gegen soziale Randgruppen entlarvt. Obwohl die Handlung in den 1930er Jahren angesiedelt ist, sind die Parallelen zur Gegenwart frappierend. Eine zweite zentrale Frage ist damit unmittelbar verbunden: Kann Kunst etwas verändern und welche Rolle kommt ihr bei, wenn es um politisches Selbstverständnis geht? Diesen Fragen widmen sich voller Zynismus neun SchauspielerInnen unter der Leitung von Oliver Frljic, wobei der Bezug von Peter Weiss' Werk nur für Eingeweihte erkennbar ist. Vielmehr ist das Stück eine Aneinanderreihung mehr oder weniger verstörender Gewaltsequenzen, die natürlich bewusst provozieren wollen und, bezogen auf die aktuellen weltpolitischen Probleme, immer wieder die Schuldfrage stellen. Was war zuerst da – 9/11, Paris und Co. oder die europäische Wohlstandsgesellschaft, deren humanistische Errungenschaften in der Ausbeutung großer Teile der Welt begründet sind? Das Stück rechnet die Opfer des IS gegen jene im Irak, Syrien und Afghanistan auf, spielt mit Identitäten und lässt Täter- und Opferrollen verschwimmen. Das missfällt zuweilen und ist einigen zu platt und kurz gedacht. Frljic hingegen will gar keine Universallösung anbieten, er will zum Diskurs anregen – und das, so muss man neidlos anerkennen, ist ihm auf jeden Fall gelungen.
Am Sonntag schließlich fand die erste von insgesamt 7 Lesungen zu Peter Weiss' 1000 Seiten umfassenden Werk „Ästhetik des Widerstands“ statt. Pergamon-Altar I wurde von keinem Geringeren als Thomas Thieme gelesen, der in Begleitung seines Sohnes Arthur Thieme erschien. Vor der archaischen Kulisse des Steinbruchs Ehringsdorf kam der gekürzten Fassung von Weiss eine besondere Symbolhaftigkeit zu. Die Lesungen finden allesamt an verschiedenen, außergewöhnlichen Orten statt. Vater und Sohn Thieme sind noch einmal am 4.9. im Eiskeller in der Humboldtstraße zu sehen. Außerdem lesen u. a. Max Landgrebe, Bernd Lange und Anna Windmüller. Noch bis zum ersten Septemberwochenende laufen die Veranstaltungen des Kunstfestes Weimar, alle Termine finden Sie unter www.kunstfest-weimar.de.
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"500 Meter Weimar", Foto © 2mcon
"500 Meter Weimar", Foto © Fotothek
Oliver Frljic - "Nase nasilje i vase nasilje" / "Unsere Gewalt und eure Gewalt", Foto © Alexi Pelekanos
Lesung Peter Weiss, Foto © Candy Welz
Lesung Peter Weiss im Steinbruch Ehringsdorf, Foto © 2mcon