Die Liste ihrer Preise ist lang und durchaus prominent. Man könnte sagen, sie ist eine fleißige Sammlerin, eine häufig prämierte und vielfach ausdrücklich wertgeschätzte Künstlerin. Die jüngste dieser Anerkennungen kommt nun von der Jury des E.T.A.-Hoffmann-Preises der Stadt Bamberg. Für ihr facettenreiches, hochklassiges Wirken als Performerin und Autorin und ein bisschen auch für ihre Rolle als Direktorin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia, so begründen die Juror:innen. Ihre Formate sind vielseitig. Ob als Moderatorin des Podcast 100 aus 100: Die Hörspiel-Collection in der ARD-Audiothek, auf Tour mit Philip Scholz, mit den Produktionen „Tinte und Terz“ im Stadttheater Amberg und „Villa Wild“ im E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg, als Kolumnistin für das Jazzpodium, mit ihrem YouTube-Kanal, im Zuge ihres Social-Media-Exhibitionismus. Nora Gomringer begeistert und überzeugt. Sie und Bamberg haben eine lange, untrennbare Geschichte. Beinahe so lange, wie der erste Vorschlag, ihr diesen Preis zu verleihen, alt ist. Den Preis nimmt die Dichterin, selbst lange Zeit als Jurorin in eben dieser Jury tätig und damit für eine Nominierung lange a priori ausgeschieden, nun sehr gerne an. Sie fühle sich in der Reihe der Preisträger:innen sehr wohl, sagt sie. Und auch wenn sie mit dem Preis tatsächlich nicht mehr gerechnet hätte, freue sie sich sehr, nach der Verleihung des Berganza-Preises des Kunstvereins Bamberg im letzten Jahr, nun auch den E.T.A.-Hoffmann-Preis entgegennehmen zu dürfen. Ein feierlicher Grund, das Gespräch mit Nora Gomringer zu suchen. Und über sie, ihr Schaffen, ihre Preise, aber auch ihr Verhältnis zu Bamberg und das zu sprechen, was sie aktuell und seit einiger Zeit bewegt.
Ich kam nach Bamberg 16-jährig, auch weil meine Mutter eine Weile so eine Art Entfernung von meinem Vater übte. Und weil sie hier fast 10 Jahre in der Psychiatrie war, meist stationär. Ich hatte es zu Hause allein nicht mehr ausgehalten. Und dann habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich glaube, mich will kein Mensch in der Welt haben. Dass niemand da ist. Ich wünschte mir, dass ich irgendwo hinkomme, wo jemand ist, der mich liebhat. So traurig war ich mit 16 tatsächlich. Und dann hat meine Mutter gesagt, dass es ihr sehr leidtut, dass ich quasi vergessen wurde. Das tat mir wohl, dass sie das sagte, weil genau so kam ich mir vor. Damals mietete sie eine Wohnung für mich in Bamberg. Ab da wohnte ich da und konnte nach der Schule immer zu ihr in die Klinik kommen.
Ich bin sehr stolz auf meine Mutter, weil ich an ihr gesehen habe, dass du eine schwere Depression haben und davon ganz gesunden kannst. Mit Zeit, Medikamenten, Ruhe und der kompletten Veränderung des eigenen Lebens. Meine Mutter war so gelähmt von ihrer Depression, als ich 10/11 war, dass ich zu Hause manchmal furchtbare Angst vor ihr hatte. Und dachte, mein Leben sei auch in Gefahr, wenn sie so komisch ist. Sie fährt nicht Auto, kocht nichts mehr. Schwierig. Und ich kann sie nichts fragen. Sie weint. Da wirst du selbst schnell zur Mutter. Ich war dann auf einmal fürsorgend und umsorgend. Und ich hatte immer Angst, dass sie sich umbringt. Ich weiß noch, ich sitze in Jurassic Park, ich sehe es mir zum vierten Mal an und dazwischen bekomme ich Schnappatmung und sage, dass ich nach Hause muss, denn meine Mutter bringt sich JETZT um. Was machst du dann als zwölfjähriges Kind. Von Hof mit der Regionalbahn „schnell“ nach Rehau, nach Wurlitz, das war so schwierig. Und dann ging sie in die Klinik und war weg. Ich wurde dann „king of my own castle“, war dann in Wurlitz so ein Alleinkind. Das ging gut, weil ich sehr nette Nachbarn hatte, die ich alle anlog, denn du willst ja nicht deine Eltern bloßstellen. Meine Eltern waren völlig ok in dem Sinne. Aber sie haben mich eben ziemlich oft allein gelassen.
Sag ich auch so. Beim Vater weiß ich nicht so ganz, der Vater war halt bei seiner Freundin und weg. Mir hatte manchmal niemand Geld dagelassen. Ich war aufgeschmissen. Ich denke da viel drüber nach, weil ich versuche, das Leben meiner Mutter zu betexten. Ganz zart. Das fällt mir sehr schwer, weil ich mir schlecht vorkomme, weil es natürlich verrät. Und auch wenn ich das so offen jetzt sage. Ich übe das offen sprechen darüber und muss natürlich einräumen: Das ist meine Sicht der Dinge. Bei einigem davon würde meine Mutter sicher auch verzweifelt widersprechen. Und sie hätte auch das Recht, ihr Gesicht besser zu wahren. Aber es erklärt so ein bisschen, wo ich da halt so herkam.
Dann war sie hier. Sie mietete da für uns eine Wohnung. Ich zog mit unserem letzten Hund hierher, Coco. In die Wassermannstraße. Und natürlich war Bamberg dann erst einmal aufregend, weil jede Stadt, so vom Dorf weg, wo es sonntags einen Bäcker gibt, nämlich Fuchs im Bahnhof, gilt dann wie eine Großstadt. Du kannst mit dem Fahrrad hinfahren und Brötchen kaufen. Das fand ich super.
Ich kam hier in Bamberg an, da war ein großes Thema. Es war gerade erschienen: „Bambergs Wirtschaft judenfrei“. Dieses dicke Buch, das der Mann hier aus der Straße, der Herr Fichtl, mitgeschrieben hat. Den ich jetzt jeden Tag sehe. Was ich als Jugendliche nicht verstand, bis meine Mutter mir sagte: „Nora, wir sind jetzt in einer Stadt, die sich aufarbeitet. Das ist interessant.“
Und alles, was meine Mutter interessant fand, was sie mir so unterschob, war sehr wichtig für mich. Das war immer so. Das war so unsere Form zu kommunizieren. Hätte ich da gesagt, sie soll mich damit in Ruhe lassen, hätte ich sie völlig verloren. Meine Mutter hätte keinen anderen Gesprächs- oder Informationsweg gehabt und auch keinen anderen Interessensweg, sich mit mir auseinanderzusetzen. Also musste ich mich für alles interessieren, was sie macht. Und das war mir leicht. Es war insgesamt also ein interessantes Ankommen. Dazu kam, dass meine Mutter ihren Doktorvater, Wulf Segebrecht, hier hatte. Und aus ihrer ganzen Depression und ihrer Zeit in der Klinik rausmarschierte, mit einem Doktortitel. Sie hat sich neu erfunden. Und in den Sommerferien, wo man ja doch mit diesem Kind umgehen muss, war ich so Assistentin meiner Mutter geworden in puncto Forschung: „Wir gehen forschen!“ Sie hat immer Archive angeschrieben, ließ sich Akten für ihre Forschung liefern. Ihr erstes Thema war Lion Feuchtwanger. Das war auch ihr Dissertationsthema.
Ja, so war Bamberg. Es hatte dann auch etwas mit einer positiven Begleitung im Franz-Ludwig-Gymnasium und meiner exaltierten und als Schülerin auch sehr nach außen drängenden Art zu tun. Da hatte ich super Lehrer, die mich großartig fanden, mich akzeptiert haben. Und in deren Reihen ich aufgewachsen bin zwischen denen, die fragten: „Der Gomringer lebt noch?“ Und die anderen haben gesagt: „Dein Vater, das war mein Rockstar.“ So habe ich schnell begriffen, der Ruf der Konkreten Poesie und damit auch Eugen Gomringers, ist ein avantgardistisch-kluger. Der war nicht so Ozzy Osbourne, sondern der ist sowohl bei den Intellektuellen als auch bei so abgefahrenen Musikhörern und bei Radioleuten der 70er angekommen. Das führte auch mich zwangsläufig in die Nähe interessanter Leute.
Die Mutter immer. Und ja, ich habe in Bamberg Mentoren getroffen. Ich habe in Bamberg Inspiratoren getroffen. Wie zum Beispiel den Rudi Sopper. Hier konnte ich schrittweise mein Schreiben intensivieren, das ich in Wurlitz auf dem Land ausprobierte und das hier in Bamberg dann erste Stimmen gefunden und Façon angenommen hat. Eine richtige Form. Durch Ablehnung, aber auch wirklich gute Kritiken, die durchaus streng waren. Sowohl von meiner Mutter als auch von Wegbegleitern wie Rudi Sopper, Prof. Wulf Segebrecht oder meinem Lehrer, Dr. Deinlein, an der Schule, konnte ich mit Begeisterung Sprache lernen.
Zunächst einmal lebst du als Künstler am besten gut aufgehoben, in abhängigen Lebensformen. Dann kannst du super deine Arbeit machen, wenn sich um dich herum gekümmert wird. Und dafür ist Bamberg prädestiniert. Das macht sich auch das Künstlerhaus zur Aufgabe. Aber die zweite Seite des künstlerischen Lebens ist die Reichweite. Der Wunsch, gesehen zu werden und groß zu werden. Zu prüfen, wie groß man werden kann. Und da bin ich im Nachhinein erleichtert, dass ich mich entschieden habe, mich nicht auf Bamberg zu beschränken. Im Gegenteil, mich hier rauszunehmen. Auch, um den Leuten hier nicht das Licht wegzunehmen. Das ist wichtig, dass ich mir gesagt habe, in Bamberg selbst maximal ein oder zwei Mal im Jahr in Erscheinung zu treten. Und ja, natürlich kriegen die Leute dennoch viel von mir mit, ich sehe das schon, zumal ich in den Sozialen Medien sehr präsent bin.
Das sind die Dinge, für die ich im Moment stehen kann. Und diejenigen, die aktuell stark mein Leben prägen: Die anhaltende Trauer um die Mutter. Die Versorgung, Pflege, ja eines 100-jährigen, meines Vaters. Ich bin eben auch Familienmensch, wenn auch nicht auf natürliche Weise allzu sehr, aber bin es im Moment verpflichtenderweise. Und lerne dabei viel, auch über mich. Gleichzeitig tröste ich mich mit der Einsicht, dass Phasen der Rezeption auch ok sind, während ich gleichzeitig darunter leide, meinem eigenen Anspruch an meine künstlerische Produktion gerade überhaupt nicht gerecht zu werden.
Ja klar. Auch wenn ich nicht von der Bildfläche verschwunden bin, wünscht man sich doch deutlich mehr Zeit und Raum für die eigene Kunst. Auch wenn ich auch aktuell immer wieder als Künstlerin ausgezeichnet werde. Für meinen Bruder und mich hätte ich gerne mal einen Preis fürs Pflegen, – ich weiß, albern – aber eben für die vielen Fragen, Einschnitte und Sorgen, die damit verbunden sind.
Mehr Informationen zu Nora Gomringers Büchern und aktuellen Terminen unter www.nora-gomringer.de.