Bereits für 2021 war die große Philip Guston Retrospektive angekündigt, damals eine Zusammenarbeit der National Gallery of Art in Washington, der Tate Modern in London, dem Museum of Fine Arts in Boston und dem gleichnamigen Haus in Houston. Im September 2020 verkündeten die Direktoren der vier beteiligten Museen, dass die geplante Ausstellung auf 2024 verschoben wird. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war wohl eine Intervention der #BlackLivesMatter-Bewegung, die den Verantwortlichen ein Pausieren nahegelegt hatte. Im Kern der Diskussion standen die Gemälde und Zeichnungen Philip Gustons, auf denen weiße Kapuzenmänner zu sehen sind und mit denen Guston auf den Ku-Klux-Klan anspielt, dessen Mitglieder er als immanenten Bestandteil der amerikanischen Realität betrachtete und die mehr oder weniger unbehelligt blieben, auch wenn sie Angst und Terror in weiten Teilen der Bevölkerung auslösten.
Mit der Entscheidung zur Verschiebung befanden sich die Verantwortlichen mittendrin in einer Cancel Culture Diskussion und erreichten damit genau das, was unter keinen Umständen hätte passieren dürfen, nämlich die Diskreditierung eines der bedeutenden Künstler des 20. Jahrhunderts, der über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren hinweg eine beeindruckende Sammlung von Gemälden und Zeichnungen geschaffen hat. Dabei war gerade die Aussage dieser Bilder alles andere als ambivalent. Guston selbst machte als Junge verstörende Erfahrungen mit denen als Streikbrecher eingesetzten Mitgliedern und Sympathisanten des Ku-Klux-Klans und eben diese Erfahrungen sowie die Tatsache, dass diese Männer quasi zum amerikanischen Alltag gehörten, bewegten ihn letztlich auch dazu dieses Motiv zu wählen.
Seine Kunstwerke stehen sozusagen als Synonym für eine in Wandlung befindliche Welt, in der es turbulent zugeht was bei vielen Menschen Ängste hervorruft.
Philip Guston, geboren als Phillip Goldstein, wuchs in einer Familie von jüdischen Einwanderern auf und musste in seiner Kindheit und Jugend mit finanziellen Schwierigkeiten und persönlichen Tragödien umgehen. Sein Vater beging Selbstmord, als Guston noch ein Kind war, und sein Bruder starb einige Jahre später bei einem Autounfall. Diese traumatischen Erfahrungen beeinflussten seine künstlerische Entwicklung und trieben ihn dazu, sich mit Kunst als Mittel zur Verarbeitung seiner Emotionen auseinanderzusetzen.
Schon in jungen Jahren interessierte sich Guston für das Zeichnen und die Karikatur und verbrachte Stunden in der Bibliothek, um Bücher über die italienische Renaissancekunst zu studieren. Er fand Inspiration in der modernen Kunst aus Europa, insbesondere im Surrealismus und in der Arbeit von Pablo Picasso. Seine frühen Gemälde, wie "Mutter und Kind" aus dem Jahr 1930 oder auch „Nackter Philosoph in der Raumzeit“ von 1935, spiegeln seine Reaktion auf diese vielfältigen künstlerischen Einflüsse wider.
In den 1930er Jahren engagierte sich Guston in politischen Aktivitäten und schloss sich einer Gruppe von Künstlern an, die von David Alfaro Siqueiros gegründet wurde. Diese Gruppe setzte sich für Arbeiterrechte ein und protestierte gegen rassistische Ungerechtigkeit in den USA. Guston begann als Wandmaler zu arbeiten und ließ sich von den Fresken der italienischen Renaissance inspirieren. Ein bedeutender Auftrag war das Wandgemälde "Der Kampf gegen den Terrorismus" in Morelia, Mexiko, das die Geschichte des Widerstands gegen Verfolgung und Gewalt darstellt.
Nach seinem Aufenthalt in Mexiko zog Guston 1936 nach New York und setzte seine Arbeit als Wandmaler im Rahmen staatlich geförderter Programme fort. In dieser Zeit änderte er auch seinen Namen in Philip Guston, um seine jüdische Identität zu verbergen, was viele andere ebenfalls aufgrund wachsenden Antisemitismus taten.
In den 1940er Jahren begann Guston sich von der öffentlichen Kunst und dem Wandmalen abzuwenden und konzentrierte sich stattdessen auf die Leinwandmalerei und Porträtmalerei. Er malte allegorische Szenen, oft von spielenden und kämpfenden Kindern wie beispielsweise in dem Bild „Kriegerische Erinnerung“ (1941), beeinflusst vom Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Er wandte sich zunehmend abstrakten Kompositionen zu.
Im Jahr 1950 erlebte New York eine kreative Blütezeit, in der Künstler, Musiker, Tänzer und Dichter in regem Austausch standen. Guston fand in dieser Umgebung intellektuelle Anregung, insbesondere in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Morton Feldman. Beide hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die kreative Praxis des anderen. In dieser Zeit entstanden Bilder wie „Bettlerfreuden“ (1954) und „Wählen“ (1956).
Mit zunehmendem Erfolg wurde Guston 1960 ausgewählt, die USA auf der Kunstausstellung der Biennale in Venedig zu vertreten. Zwei Jahre später organisierte das Guggenheim Museum in New York seine erste Retrospektive und trug dazu bei, seinen Status als einer der führenden abstrakten Maler seiner Zeit zu festigen.
In den 1960er Jahren erlebte Guston eine erneute kreative Krise und begann, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Er beobachtete die Gewalt und politische Unruhe in den USA und weltweit und wurde insbesondere von der Polizeigewalt gegen Demonstranten beim Demokratischen Parteitag 1968 in Chicago erschüttert. Diese Ereignisse erinnerten ihn an den Ku-Klux-Klan und inspirierten ihn zu neuen Gemälden mit vermummten Figuren, die das Böse und die alltäglichen Täter des Rassismus repräsentierten. Beispiele hierfür sind unter anderen die Bilder „Dämmerung“ (1970) oder auch „Am Fenster“ (1969).
Die Vermummung dieser Figuren war ein kraftvolles Symbol für das Böse, das in der Gesellschaft versteckt ist. Guston stellte Fragen nach der Identität hinter der Kapuze und wie gewalttätige Ideologien maskiert sind.
Diese neue Richtung in Gustons Kunst löste kontroverse Reaktionen aus, insbesondere unter den Kritikern und vielen seiner Kollegen aus der Kunstwelt. Einige fühlten sich von seinem Wechsel vom Abstrakten zum Figürlichen verraten, während andere seine Darstellung des Bösen und seine kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft bewunderten.
Guston schuf weiterhin Bilder, die eine Welt einsamer Objekte („Monument“, 1976), lebhafter Flammen und schlafender Figuren („Couple in Bed“,1976) darstellten. Seine Gemälde blieben stets ambivalent und provokativ, und er selbst betrachtete die Kunst als eine Möglichkeit, die Brutalität der Welt zu bewältigen und sich kreativ herauszufordern.
Philip Guston verstarb im Jahr 1980 an den Folgen einer Herzkrankheit, doch sein Werk und sein Einfluss auf die Kunstwelt sind bis heute lebendig und inspirierend. Seine Werke sind in zahlreichen bedeutenden Museen und Sammlungen weltweit zu finden und werden weiterhin erforscht und geschätzt. Gustons Beitrag zur Kunstwelt reicht weit über seine Zeit hinaus und bleibt eine wichtige Quelle der Inspiration und Reflexion über die menschliche Natur und die sozialen Herausforderungen.
Die Ausstellung "Philip Guston" in der Tate Modern in London ist die erste bedeutende Retrospektive des Künstlers im Vereinigten Königreich seit fast 20 Jahren. Sie beleuchtet Gustons 50-jährige Karriere und seine vielfältigen Herangehensweisen an die Malerei. Die Ausstellung bietet Einblicke in seine künstlerischen, philosophischen und sozialen Anliegen, die stark von den Ereignissen des 20. Jahrhunderts geprägt waren, darunter Kriege, rassistische Ungerechtigkeit, politische und soziale Umbrüche.
Die Ausstellung „Philip Guston“ läuft noch bis zum 25. Februar 2024. Weitere Informationen gibt es im Netz unter www.tate.org.uk.