
Was für ein Auftakt zur Eröffnung der 39. Bayerischen Theatertage, die vom 29. Mai bis 16. Juni in Ingolstadt stattfinden. Das gastgebende Theater der Stadt legte mit „Haus der Ruhe“, der deutschsprachigen Erstaufführung von Zinnie Harris‘ „This Restless House“ schon gleich richtig vor. Ein Abend, der sowohl dem Ensemble als auch dem Publikum reichlich Durchhaltevermögen abverlangte, allerdings über die mehrstündige Dauer der Trilogie nach der Orestie von Aischylos, einem der Urtexte der Demokratie, keinen Moment der Langeweile aufkommen ließ.
Alles hatte im antiken Griechenland mit der Ermordung eines Kindes begonnen. Mit dem Tod von Iphigenie (Amélie Hug) sollten die Götter besänftigt werden. Vater Agamemnon (Richard Putzinger) selbst hatte sein Kind den Göttern als Opfer dargebracht. Als er nach zehn Jahren Krieg um Troja zurückkehrt, trifft er auf seine Frau Klytämnestra (Teresa Trauth), die all die Jahre die Trauer um ihre Erstgeborene im Rausch ertränkt hatte, jetzt aber glasklar seinen Tod inszeniert. Doch Elektra (Sarah Schulze-Tenberge), ihre zweite Tochter, wird unfreiwillig Zeugin dieses Mordes. Im zweiten Teil kehrt auch der verschollene Bruder Orest (Marc Simon Delfs) zurück. Nicht er, wie in der antiken Vorlage von 458 v. Christus, sondern seine Schwester Elektra wird nun zur Mörderin der Mutter. Fortan getrieben von Ängsten und vermeintlichen Rachegeistern, lebt Elektra in ständiger Unruhe.
Zinnie Harris hatte den antiken Stoff einer groß angelegten Runderneuerung unterzogen, die sich zwar in großen Teilen an den Hauptsträngen nah am Original orientierte, aber doch deutlich anders fokussiert war. Im Blick hatte die Autorin die Frauenfiguren, deren Rache und ihr verbindendes Trauma. Im dritten Teil, „Elektra und ihr Schatten“, verlegt sie die Handlung aus der Antike in eine psychiatrische Klinik. Geschickt lenkt sie so die Aufmerksamkeit von der antiken Mythologie in die Gegenwart. Elektra trifft hier auf eine Ärztin (Sarah Horak), die ein ähnliches Schuld-Angst-Konstrukt als Ballast mitschleppt, scheinbar geheilt ist, und zu deren Projektionsfläche wird. Themen wie Schuld, Rache, Vergeltung, Gerechtigkeit oder auch Traumabewältigung und Erlösung werden angeschnitten.
Diese Überschreibung der antiken „Orestie“ kam wortgewaltig, mit voller Wucht daher, zeigt das Morden schonungslos. Ebenso intensiv spiegelt sie aber auch die emotionalen, generationsübergreifenden Betroffenheiten der einzelnen Figuren, die die Darsteller des Ingolstädter Ensembles exakt und mit großer Empathie konturierten. Eine große Herausforderung, auch diesen Bogen von der Antike bis in die Jetztzeit zu spannen. Das gelang eindrucksvoll. Die Inszenierung von Jochen Schölch schaffte es auch, die drei Teile als miteinander verwobene Handlungsebenen zusammenzuhalten. Bühnenbild (Fabian Lüicke) und Kostüme (Andrea Fisser) bewegten sich zwischen antiker Palastszenerie, neutralen Naturtönen sowie modern-steril anmutender Klinikatmosphäre, verknüpft durch eine gleichbleibende, mittig platzierte ansteigende Trapezfläche als zentralem Spielort. Dezent, fast nicht wahrnehmbar und doch unverzichtbar, entwickelte Malte Preuss eine magisch atmosphärische Musik- und Geräuschkulisse.
Wie im antiken Theater kommt auch in der Harris-Version dem Chor eine bedeutende Rolle zu, in der Funktion als Erzähler oder auch Kommentator. Anders als bei Aischylos spricht der Chor, hier eher eine Schicksalsgemeinschaft aus sogenannten „Versehrten und Nutzlosen“, der Harris-Fassung nicht einstimmig, sondern mit unterschiedlichen Stimmen. Hervorragend präzise von den sieben Herren dargeboten, die stellenweise auch einzeln hervortraten. Große Schauspiel- und Sprecherkunst. Wie überhaupt alles bei dieser Inszenierung, die einfach deutlich macht, wie gutes Schauspielhandwerk aussehen kann, das ohne Effekthascherei, nur mit der Kraft des Spiels auskommt.
Webseite der Bayerischen Theatertage: www.bayerische-theatertage.de