Wer je in Auschwitz gewesen ist, weiß, dass es ein Davor und ein Danach gibt, denn die dort gesehenen Bilder und erlebten Eindrücke bekommt man nicht mehr aus dem Kopf. Insofern macht es für die Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ durchaus einen Unterschied, ob man schon mal den Weg ins weit entfernte Oświecim gewagt hat oder nicht. Regisseur Tobias Kratzer verschont uns nämlich in seiner Inszenierung an der Staatsoper München vor den authentischen Eindrücken der Lagerrealität, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, diese per Video einzufangen und zu präsentieren. Aber er verschont uns nicht vor dem, was im Inneren der Protagonisten vorgeht.
Diejenigen Besucher, die bereits in Auschwitz vor Ort waren, haben den „Vorteil“, dass sie von ihren unvergessenen Eindrücken bereichert werden, was allerdings auch den Nachteil impliziert, dass sie von ihnen einen ganzen Opernabend lang verfolgt werden. Wer noch nicht dort war, hat den unverstellteren Blick auf das Werk, muss sich aber die Dimensionen des Grauens aus seinem Vorwissen und aus der dramaturgischen Behandlung des Personals erschließen.
Der Plot erinnert in seiner Konstellation in einem Detail an den Weltbestseller „Der Vorleser“, doch was bei Bernhard Schlink pure Fiktion ist, hat im Libretto von Weinbergs Oper einen realen Hintergrund, denn es basiert auf der autobiographischen Erzählung der polnischen Widerstandskämpferin Zofia Posmysz, die 2022 als fast Hundertjährige starb. In beiden Geschichten geht es um Frauen, die nach dem zweiten Weltkrieg von ihrer identischen Vergangenheit – dem Wirken als KZ-Aufseherin in Auschwitz – eingeholt werden.
Die Inszenierung versetzt das Geschehen zunächst in die Nachkriegszeit. Lisa und ihr Mann Walter, ein Diplomat, sind auf einer Schiffsreise nach Amerika, als eine fatale Begegnung stattfindet: Marta, eine längst totgeglaubte KZ-Insassin, ist ebenfalls auf dem Schiff, und Lisa erkennt sie sofort. Schon hier beginnt eine Verschränkung der Zeitebenen, die sich durch die ganze Inszenierung ziehen soll. Lisa ist nämlich in der Kabinenwand des Ozeandampfers ständig als Greisin präsent, also gedoppelt und die Asche ihres Mannes in einer Urne mitführend.
Lisa fühlt sich zunehmend verfolgt von den nicht mehr abzuschüttelnden Marta-Wahnvorstellungen, die halb Lebewesen, halb Alptraum zu sein scheinen und im weiteren Verlauf als jugendliche Doppelgängerinnen oder einstige Mitgefangene auftauchen. Walter, der um seine Karriere fürchtet, hat sie inzwischen ihre Vergangenheit offenbart. In der Folge steuert die Inszenierung auf den Kernkonflikt zu, nämlich die Frage, ob sich eine KZ-Aufseherin bezüglich ihrer Verantwortung auf die Behauptung zurückziehen kann, in einer Zwangssituation nur das absolut Notwendige getan, also die Häftlinge weitgehend geschont zu haben.
Dass sie dafür allen Ernstes Dankbarkeit einforderte, gehört ebenso zu ihrem Schuldkonto wie die Unbefangenheit, mit der sie – wie fast die ganze Gesellschaft – in der Nachkriegszeit dem Vergessen frönte. Da rückt die Möglichkeit der Vergebung seitens der Opfer in weite Ferne. Auschwitz ist natürlich die ganze Zeit präsent, aber vor allem in der Mimik und Gestik der alten Lisa (beeindruckend: Sibylle Maria Dordel), die am Ende ins Wasser springt. Später kommen Doku-Szenen aus dem Konzentrationslager hinzu.
Zu Beginn ist die Oper ziemlich eindimensional, denn der Dialog zwischen Lisa und ihrem Mann zieht sich in die Länge. Nach dem Stichwort, man müsse nun auch andere Stimmen hören, entwickelt sich ein vieldimensionales Spiel, das in der Parallelität von Schiffsbankett und KZ-Konzert kulminiert. Martas Verlobter soll nach dem Wunsch des KZ-Kommandanten dessen Lieblingsmusik auf der Violine spielen, doch der verweigert dies, indem er den Beginn der Bachschen Chaconne d-moll anstimmt – und prompt von den Lagerschergen ermordet wird.
Nach der Pause klingt Weinbergs Musik geradezu ostentativ nach dem Idiom seines Mentors Schostakowitsch. Insgesamt überrascht es jedoch in seinem jeglichem Streicherklang entfremdeten, zu spitzen Bläsereinsätzen neigenden und verbindende Übergänge meidenden Stil. GMD Vladimir Jurowski führt mit unfehlbarer Präzision und ausreichender Abstimmung mit den Sängern durch die anspruchsvolle Partitur.
Bald ereignet sich auch der musikalische Höhepunkt des Abends, der Klagegesang der jungen Marta, die von Elena Tsallagova ergreifend als Schmerzensfrau dargestellt und gesanglich eindringlich bewältigt wird. Der omnipräsenten Lisa fehlt ein solch herausragender Moment in ihrer Rolle, doch sie wird von Sophie Koch sehr intensiv gestaltet und gesungen. Die ebenfalls ausgezeichnete Besetzung des Walter durch Charles Workman prägt den ersten Abschnitt der Oper, doch später gerät seine Rolle in den Hintergrund.
Tobias Kratzers Inszenierung, die strikt auf der literarischen Vorlage – der autobiographischen Erzählung von Zofia Posmysz – beruht und nicht etwa auf dem Opernlibretto Alexander Medwedews, erzählt die Geschichte konsequent und schnörkellos und kann auch durch ihre geschickt angelegten Zeitverschränkungen vollends überzeugen. Dem zollte ein ausverkauftes Haus reichlichen Applaustribut.