
Es gibt Opern oder Stücke anderer Gattungen des Musiktheaters, die man zu kennen glaubt, weil sich einige ihrer Nummern im Hörgedächtnis festgefressen haben. Zweifelsohne gehört Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ dazu, jene Oper in drei Akten aus dem Jahre 1930, die auf Bertolt Brechts Texten fußt. Hits wie der „Moon of Alabama“, „Wie man sich bettet, so liegt man“ oder „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ kennt jeder. Aber in toto gesehen hat dieses musikalisch sehr anspruchsvolle Werk kaum jemand, und das hat einen einfachen Grund: „Mahagonny“ wird selten inszeniert, weil es neben den sattsam bekannten Schlagern auch längere und schwierig darzustellende Passagen enthält. Aber wir wollen hier nicht den abwertenden Begriff „Längen“ verwenden, denn dazu ist Weills Musik einfach zu genial.
Barry Kosky hat sich nach der „Dreigroschenoper“ nun die Geschichte von der Gründung einer utopischen Stadt mitten in der Wüste – und deren voraussehbarem Untergang – vorgenommen, die ungleich opernhafter ausgestattet ist als der Dreigroschen-Vorgänger. Gleich die erste Szene lässt uns im Hier und Jetzt ankommen, nämlich in der von religiösen Diskursen dominierten Gegenwart. Am Rande der Wüste schauen ein Rabbi und ein Priester ins Rund, ihre Glaubensbücher in der Hand. Aber deren Inhalt scheint sie kaum zu interessieren, denn sie halten Bibel und Talmud verkehrt herum. Vielleicht sind sie sogar religiöse Analphabeten, jedenfalls ist klar, dass man hier mit Religion keine Zukunftsstadt bauen kann. Warum auch, es geht ja viel eher um die Idee einer Glitzerwelt, die sich dem Konsum verschrieben hat. Und glitzern tut diese Inszenierung von Anfang an, textil wie bühnenmäßig mit ihren Spiegeln und Hochglanzflächen.
Bald tauchen die Glückssucher auf, unter ihnen auch die späteren Protagonisten Jim und Jenny. Jetzt kann dem Grundprinzip in Mahagonny gefrönt werden: Alles ist erlaubt, sofern man dafür bezahlen kann. Nach diversen Todesfällen dank Fressen, Saufen, Sex und Boxen steckt Jim in der Klemme, weil er pleite ist und eine versprochene Runde nicht zahlen kann. Ein todeswürdiges Verbrechen in Mahagonny, auf das der Tod als Strafe steht. Wie unerbittlich Geldmangel in dieser Welt verfolgt wird, unterstreicht Kosky durch die Hinrichtungsszene, die geradezu zelebriert wird. Jeder und jede ist gehalten, dem Delinquenten das Messer in den Leib zu rammen. Das mag übertrieben wirken, trifft aber den Sinn dieser Fabel: einig ist man sich hier nur bezüglich der Bedeutung des Geldes; das verbindet. Zum schlechten Schluss muss librettogetreu noch der Herrgott höchstpersönlich auftauchen und die verkommene Gesellschaft in die Hölle verdammen. Er kommt als jämmerliches Äffchen auf einem Go-Kart hereingefahren – tja, Gott ist halt auch nicht mehr das, was er mal war.
Warum der Besuch dieser Inszenierung unbedingt lohnt, hat neben der pfiffigen Inszenierung – typischer Kosky halt – einen eminent musikalischen Grund. Einerseits bietet die Komische Oper ausgezeichnete Sängerdarsteller (-innen) auf, allen voran ein Jim (Allan Clayton) mit großem Tenorvolumen und schauspielerischer Bravour. Die Jenny ist mit Nadja Mchantaf ebenfalls erstklassig besetzt, doch hätte ihrer sehr opernhaften Stimme ein wenig mehr Verruchtheit gut getan. Brillant auch Nadine Weissmann als Leokadja Begbick, Ivan Turšić als Fatty und Jens Larsen als Dreieinigkeitsmoses. Ainārs Rubikis, der GMD der Komischen Oper, holt aus seinem virtuos aufgelegten Orchester (Sonderlob für die Bläser!) das Bestmögliche heraus. Dass in zwei Szenen die Koordination mit dem weit hinten aufgestellten Chor nicht perfekt funktionierte, war absehbar, denn dafür ist die Entfernung einfach zu groß. Nichtsdestotrotz kommt man aus dieser Aufführung tief beeindruckt heraus.