
Wer zu spät kommt, den bestraft die Aktualität. So könnte man meinen beim Blick auf das Opernprojekt „Ivan IV.“ des Meininger Staatstheaters. Es war für 2021 geplant, fiel aber der Corona-Krise zum Opfer und musste sich nun seine Premiere mit dem Jahrestag des russischen Eroberungsfeldzuges teilen. Welche Koinzidenz! Doch zum Glück hat sich bezüglich der Auswirkungen des Krieges längst die Sichtweise durchgesetzt, dass es nicht angehen kann, den Putinschen Machtphantasien die Begegnung mit russischen Kulturthemen zu opfern. Sei es mit russischer Musik, sei es mit literarischen oder geschichtlichen Themen.
Die Oper „Ivan IV.“ ist zwar von Georges Bizet, also eine französische Eingebung, aber sie handelt eben von einem russischen Zaren. Ein solcher, Alexander II., war übrigens zur Zeit der Entstehung des Werkes auch in Paris, weshalb die Oper als nicht opportun erschien und noch lange auf ihre Erstaufführung warten musste. Das Meininger Haus kann für sich in Anspruch nehmen, nach unvollständigen „Uraufführungen“ in Bordeaux (1951) und Bern (1952) sowie einer kleiner besetzten Erstaufführung in Petersburg im Dezember 2022 nun die erste großformatige Inszenierung realisiert zu haben. Will heißen, mit dem durch Howard Williams ergänzten und orchestrierten 5. Akt. Und wahrlich, dieses Werk ist „Grand Opéra“ par excellence!
Der Plot dreht sich um einen wahren Kern, nämlich die zweite Ehe des ersten russischen Zaren, Ivan IV., auch der „Schreckliche“ genannt, mit der tscherkessischen Regententochter Maria. Die war auf Geheiß des Zaren wegen ihrer Schönheit geraubt worden, was die Tscherkessen auf Rache sinnen ließ. Dummerweise verliebt sich diese kaukasische Helena in den Despoten und verhindert so die eigentlich fällige Ermordung Ivans, die ihr Bruder Igor hätte besorgen sollen. Ein intriganter Bojare namens Yorloff ist am Ränkespiel ebenfalls beteiligt, findet sich aber am Schluss auf der Verliererseite.
Er hatte sich gegen den Zaren gewandt, weil er ihm die eigene Tochter andienen wollte, aber abgewiesen wurde. Sein Putschversuch scheitert jedoch kläglich. Ivan IV. wird in diesem Libretto – entgegen seinem furchterregenden Ruf – als ein Herrscher gezeichnet, der fast ausschließlich von unbedingter Liebe getrieben wird und darüber hinaus auch zu Einsicht und Racheverzicht fähig ist. Tomasz Wija charaktisiert ihn entsprechend, stimmstark, aber nicht zu tyrannisch. Seine Marie (Mercedes Arcuri) kämpft sich in bewundernswerter Weise durch eine äußerst anspruchsvolle Rolle mit hohen stimmlichen Anforderungen.
Die Bühne ist sehr vertikal und recht düster ausgerichtet, die Kostümierung auf angenehme Weise konventionell und trotzdem phantasievoll. Hinrich Horstkotte zeichnet dafür und für die Gesamtregie verantwortlich. Ihm sekundieren bestens einstudierte Chöre und die einmal mehr unter Philippe Bachs Leitung wie beseelt musizierende Meininger Hofkapelle. Aktualisierungen hat man sich weitgehend erspart, aber die auffälligste war zu gleich auch die problematischste: Igors Sprengstoffgürtel, der Dschihad-Assoziationen weckte. Ob da jemand die Tscherkessen mit den Tschetschenen verwechselt hat, deren radikale Führer schon mal mit derlei Utensilien hantieren?
Die Besetzung der weiteren Rollen ist durchwegs vorzüglich: erwähnen wir nur Paul Gay als stimmgewaltigen Temrouk, dem Fürst der Tscherkessen, und den heldentenörigen Alex Kim als Igor. Es ist eine effektvolle Oper, die Meiningen da wieder in die öffentliche Wahrnehmung gebracht hat, und es ist eine rundum überzeugende Inszenierung, mit der sich das Haus große Meriten verdient.