
„Das Leben ist dem Jazz sehr ähnlich – es ist am besten, wenn du improvisierst“, sagte der amerikanische Komponist George Gershwin und brachte es auf den Punkt: Jazz ist alles andere als eine Kunst für den Elfenbeinturm. Sie entspringt dem Leben und ist genauso vielfältig wie dieses. Seine Wurzeln hat der Jazz in der Musik der Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika kamen und auf den Baumwollfeldern arbeiten mussten. Um ihr Leid bei der harten Arbeit zu vergessen, sangen sie. Neben hoffnungsfrohen Gospels entstand auch der Blues, der die Traurigkeit über das Leben in Töne kleidete. Die sogenannten Blue Notes wurden dann auch wesentlicher Bestandteil des Jazz, der sich nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA verbreitete und die Identität der afroamerikanischen Bevölkerung prägte, ihnen neues Selbstbewusstsein verlieh. Seit den Anfängen im New Orleans Jazz um 1900 nahm die Musik eine rasante Entwicklung in verschiedenste stilistische Richtungen: Bebop, Cool Jazz, Free Jazz, Nu Jazz, um nur einige zu nennen und verbreitete sich auch in Europa. Während die einen ihn als grandiose Unterhaltungsmusik feierten oder ihn dafür wie Theodor W. Adorno kritisierten, machten andere auf die große kulturelle Leistung aufmerksam, die der Jazz in seiner Vielschichtigkeit war, als Kunst der Zwischentöne zwischen arm und reich, schwarz und weiß, E und U, Kunst und Kommerz. In Deutschland ist Jazz zwar genauso vielseitig und dem Leben entspringend, wie im amerikanischen Raum, aber „dennoch eine Nische“, wie Jazz-Klarinettistin, Komponistin und Bandleaderin Rebecca Trescher feststellt: „Ich denke immer, der zeitgenössische Jazz vereint so viele Stile, von Klassik über Pop/Rock bis Minimal. Das müssten eigentlich viel mehr Menschen hören und mögen. Jazz ist einfach Musik am Puls der Zeit.“ So vielschichtig die Musikgattung, so unterschiedlich auch die Musiker*innen, deren Perspektiven dieser Artikel einfängt.
Neben Rebecca Trescher (*1986) sind das Norbert Nagel (*1961) ebenfalls Klarinettist, Saxophonist, Komponist, Dirigent, musikalischer Tausendsassa zwischen den Genres, Thilo Wolf (*1967) Pianist, Big-Band-Leader und Unternehmer sowie Paul Bernewitz (*1997) frisch diplomierter Jazz-Pianist der Nürnberger Hochschule für Musik und Masterstudent im Studiengang Jazz-Arrangement und Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Vier verschiedene Generationen spiegeln sich in dieser Auswahl. Das Geschlechterverhältnis hingegen ist nicht ganz korrekt wiedergegeben. Mit einer von vier Befragten ist die weibliche Perspektive eindeutig überrepräsentiert, denn in der Geschlechterfrage zeigt sich der Jazz leider nach wie vor nicht besonders fortschrittlich. Statistisch gibt es nur 10% [1]Jazzmusikerinnen (zumeist Gesang oder Klavier). Die Aufmerksamkeit für dieses Missverhältnis, für die mangelhafte Sichtbarkeit von Frauen im Jazz, wächst, ob zur Verbesserung der Situation allerdings immer die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, bleibt fragwürdig: „Da wird dann vom Veranstalter abgefragt: Habt ihr eine, zwei oder drei Frauen in der Band? Gibt’s eine weibliche Bassistin? Sonst können wir euch leider nicht engagieren. Da frage ich mich schon, ob die Quoten nicht zu Lasten der Qualität gehen, auf der anderen Seite, bringt dieses Politikum dem Jazz an sich auch wieder Aufmerksamkeit“, konstatiert Norbert Nagel „und das ist gut und wichtig“. „Wenn es mehr Jazzmusikerinnen gäbe, hätte ich mehr in meiner Band“, sagt Thilo Wolf nüchtern. „Aus meiner Perspektive als Unternehmer kann ich nur immer wieder feststellen: Frauen bewerben sich auf eine Stelle bei ca. 95% Passgenauigkeit, Männer eher so bei 30. Ich würde Frauen unbedingt dazu ermutigen schneller ‚Yes I can‘ zu sagen. Männer machen das meist und sind deshalb noch lange nicht die bessere Wahl.“ Rebecca Trescher erzählt, dass es sie anfangs schon sehr verunsichert habe, immer die einzige Frau zu sein, sie sich aber inzwischen daran gewöhnt habe, immer mit Männern zu arbeiten, was sie als „entspannt“ beschreibt: „Aber ich halte schon immer nach Frauen Ausschau. Und es tut sich was. Sowohl in der freien Szene als auch an Hochschulen sind heute mehr Instrumentalistinnen unterwegs. Das schafft dann auch Vorbilder für die nächsten Generationen. Mit der Brechstange sollte man es nicht durchsetzen.“
Vier Wege, eine Liebe: der Jazz
Rebecca Trescher (www.rebeccatrescher.com) hat sich in der Männerdomäne ihren Weg gebahnt: Der Deutsche Jazzpreis sowie sämtliche regionale Auszeichnungen schmücken ihre Vita bereits. Geboren ist sie als älteste Tochter in eine Handwerkerfamilie mit fünf Kindern in der Nähe von Tübingen. In der Familie wurde zwar musiziert, aber um wirklich tiefer einzusteigen, musste sie früh mit dem Jobben anfangen. So konnte sie sich eine bessere Klarinette leisten, Unterricht nehmen und sich ihr Musikerinnendasein Stück für Stück selbst aufbauen – von der klassischen Musikschulausbildung, über das Musizieren in Kammermusikensembles und Orchestern, bis zur Aufnahme im Fach Jazz-Klarinette an der Hochschule für Musik in Nürnberg, dem sie noch ein Kompositionsstudium in München nachsetzte. Die erste Band hat sie während des Studiums schon gegründet „und ziemlich naiv einfach ein erstes Album aufgenommen“. Heute hat sie ein Tentett, ein Quartett, zahlreiche Kompositionsaufträge und einen Lehrauftrag an der Hochschule in Nürnberg und künftig auch in Berlin. Bei ihrem jüngeren Kollegen Paul Bernewitz lief es anders. Er ist in eine weitverzweigte Leipziger Musiker*innen-Familie geboren, weshalb Musik immer schon um ihn, „in ihm“ war. Sein Vater war Sänger im Opernchor, die Mutter Tänzerin, die Tante im Gewandhausorchester, der Bruder Chordirektor in Bremen und das ist nur der engste Kreis. In seiner Kindheit und frühen Jugend war Paul Bernewitz Mitglied im renommierten Thomanerchor und genoss dort eine ganzheitliche musikalische Erziehung, die ihn bis heute prägt. Am Klavier sitzt er seit seinem 5. Geburtstag und der Jazz kam über eine Erroll Garner Platte zu ihm, den er bis heute für seine Vitalität, „zu der man direkt tanzen möchte“ bewundert. Trotz vieler Warnungen vor einem finanziell prekären Leben, wollte er Klavier studieren, begann zunächst eine klassische Ausbildung an der Hochschule in Dresden, wo seine Professorin glücklicherweise ziemlich schnell erkannte, dass er dort nicht richtig war und fasste daraufhin den Entschluss, seinen Weg im Jazz zu gehen. Von 2019 bis 2023 studierte an der Hochschule für Musik in Nürnberg bei Rainer Böhm und seit Herbst ist er im Master bei Michael Wollny in Leipzig eingeschrieben. Um sich das alles zu finanzieren, arbeitet Paul Barnewitz als Ballettrepetitor in Bautzen: „Das ist eigentlich eine fantastische Möglichkeit für Jazzmusiker neben dem Unterrichten. Man spielt jeden Tag zu den Übungseinheiten der Kompanie, variiert, schafft sich neue Standards drauf – Rock, Pop, Klassik, alles, was Spaß macht, damit die Tänzer*innen Freude an ihren Übungen haben und sich nicht langweilen.“ Dass das Berufsleben, das Leben von der Musik, immer harte Arbeit sein wird, ist ihm bewusst, aber die Musik eben auch seine Berufung. Er erinnert sich oft an den Spruch, der die Bühne des Leipziger Gewandhauses ziert: Wahre Freude ist eine ernste Sache (res severa verum gaudium). Finanziell unabhängiger und mit wesentlich weniger Bedenken und Sorgen ist die ältere Generation eingestiegen. Dies aber auch mit sehr unterschiedlichem Hintergrund. Thilo Wolf hatte von Anfang an das elterliche Unternehmen im Rücken, studierte dann selbst Ökonomie, denn „es schadet auch in der Kunst nicht, sich mit Zahlen auszukennen“ und übte immer zwei Berufe aus: „Beide mit großem Ernst: 100% Firma und die restlichen 80% Musik,“ versichert er lachend. Von seinen Eltern unterstützt lernte er in seiner Kindheit und Jugend Akkordeon, Klavier, Schlagzeug, Gitarre und Kontrabass. Der Vater war Swing-Fan und auch Thilo Wolf war begeistert von dieser Musik: „Schon mit 12/13 wollte ich meine eigene Big Band“. Ein Wunsch, der 1992, Wolf war gerade 24 Jahre alt, in Erfüllung ging. Seiner glücklichen Herkunft ist er sich bewusst. Darauf ausgeruht hat er sich nie: „Das Unternehmen gab mir natürlich oft Sicherheit. Ich musste nie machen, was ich nicht wollte, konnte sogar die Projekte, die mir am Herzen lagen, selbst sponsern. Außerdem gibt es schon auch viele Parallelen: In beiden Jobs muss man sehr gut Organisieren und Delegieren können. Auch das Musikerleben besteht ja nicht nur aus Bühnenzeit. 60% sind Orga, also: Welcher Musiker sitzt in welcher Kleidung auf welchem Stuhl.“ Häufig, auch in seiner Big Band, sitzt dort Norbert Nagel auf einem der Stühle. Oder aber umgekehrt, er dirigiert und Thilo Wolf spielt. Nagels musikalisches Leben beginnt auf dem platten oberpfälzischen Land: „Ich habe immer schon auf allem herumgetrommelt, was ich in die Finger bekommen habe und mit 5 Schlagzeug gelernt. Mit 9 durfte ich mir dann was Richtiges aussuchen: Saxophon. Mit 10 kam Klavier dazu, mit 11 Klarinette und mit 13 war ich Gaststudent am ehemaligen Konservatorium in Nürnberg: klassische Ausbildung. Bis dahin war ich mit Märschen und Polka aufgewachsen. Nur Bach kannte ich schon.“ Drei von fünf Kindern aus der Nagel-Familie hat es zur Musik gezogen. Zu verdanken war dies dem Vater, „er hat uns ermöglicht, was er selbst nicht werden durfte.“ Norbert Nagel brillierte zwar in der klassischen Ausbildung, quälte sich aber auch: „Klassik ist Militär. Ich wollte was anderes und Jazz war die Befreiung. Hier muss man nicht immer alles von Noten spielen. Nicht immer alles richtig spielen. Im Jazz probiert man sich aus, macht Fehler, man bespricht es, trifft sich wieder, probiert wieder und dann entwickelt sich wirklich was. Es geht immer um die Musik. Und das Jazz-Universum, die Melodien und der Groove haben mich gepackt“. Nach der Klarinetten-Ausbildung am Konservatorium in Nürnberg lässt sich Norbert Nagel im Jazzbereich der Kölner Musikhochschule weiterbilden. „Zum Komponieren und zum Klavier bin ich dann erst viel später (zurück)gekommen. Das habe ich ein wenig dem Bayerischen Rundfunk zu verdanken und einer spontanen Verabredung, die lautete: ‚wir mieten die kleine Meistersingerhalle an und du präsentierst dein Album.‘ Gesagt getan. Das muss man sich heute mal vorstellen...“
Die guten alten Zeiten?
Dass er gleich von seiner Musik leben konnte, hält Norbert Nagel (www.norbertnagel.com) für großes Glück: „In meiner Generation gab’s fast nur Gitarrenspieler. Die wollten alle Rockmusiker sein. Bläser gab es kaum. In Nürnberg gab es zu der Zeit glaub ich keinen einzigen Trompeter. Und auch ich konnte gleich in München spielen, war mit 22 bei Max Greger, hab Studiomusik gemacht, war im Showorchester von Michael Schanze. Es gab immer Aufträge.“ Und auch Thilo Wolf beschreibt dieses Glück: „Ich konnte mir einige große Träume erfüllen, wie zum Beispiel die Big Band. Das war eine Mischung aus Zufall, Vertrauen, und Mut, im richtigen Moment zuzupacken – auch wenn es einen vielleicht erstmal überfordert hat.“ Dass dies auch der Zeit zu verdanken war, steht für Norbert Nagel außer Frage: „Wir konnten uns ja damals fast verstecken und es kamen trotzdem Leute. Ich erinnere mich an eine Situation, da dachten wir, wir hätten einen Gig in der Kaiserburg (damals eine beliebte Kneipe). Die sagten uns, das sei nicht heute. Da haben wir spontan entschieden am selben Abend noch beim Griechen in Gostenhof zu spielen und voll war’s trotzdem. Heute geht es um Promotion – das Profil, die Verpackung muss stimmen, man muss dranbleiben und investieren. Heute produziert man zuerst das Album und geht dann auf Tournee. Dabei kann sich bei so einer Tournee enorm viel entwickeln. Auf Dauer geht das glaub ich schon zu Lasten des Inhalts und der Qualität.“ Rebecca Trescher hat die Erfahrung in den 80ern zwar nicht gemacht, erkennt aber auch die Gefahr: „Durch die Digitalisierung sind die Mittel so vielseitig geworden. Man kann eigentlich alles benutzen und finden, aber man kann sich auch enorm verzetteln. Und ja, man braucht das eigene Profil, aber dafür muss man sich fokussieren und Prioritäten setzen. Ich nehme da gerade bei den ganz Jungen schon eine Form von Orientierungslosigkeit wahr.“ „Aber dass heute schnellere Kommunikation möglich ist, ist schon auch ein Segen fürs Business“, gibt Paul Bernewitz zu bedenken. Norbert Nagel ergänzt: „Ja, und was einem digitale Notenprogramme für Arbeit ersparen…“. „Es gibt ja auch vieles, was einfach gleichgeblieben ist. Auf ein Netzwerk mit Unterstützern ist man heute genauso angewiesen wie früher“, stellt Bernewitz klar, „obwohl man über social media heute schon erstmal schneller Aufmerksamkeit bekommen kann“. Thilo Wolf sieht das schnelle Teilen im Netz zweischneidig. Auf der einen Seite würde er seinem jungen Kollegen Recht geben, „denn man kommt heute viel niederschwelliger rein.“ Auf der anderen Seite „hat eine gute Plattensammlung wegen der Verfügbarkeit im Streaming enorm an Wert verloren und das meint: Es ist heute immer schwerer vermittelbar, dass Musik einen Wert hat.“ Dennoch passieren Dank Internet auch unglaubliche Dinge im Musikgeschäft. Norbert Nagel erzählt begeistert von einem Jazz Festival in Indien, zu dem sie mit der Thilo Wolf Big Band eingeladen wurden, nur weil die Veranstalter ein Video auf Youtube gesehen hatten. „Wir haben direkt nach einer top Big Band aus New York gespielt. Im Jahr drauf haben wir das Festival dann sogar eröffnet“. Und eins scheint dann heute doch auch eindeutig besser zu sein, wie Thilo Wolf deutlich macht: „Die Ausbildung hat sich qualitativ schon enorm entwickelt und ich finde, auch die Einstellung oft besser. Überhaupt finde ich die jungen Kollegen oft offener und technisch besser. Aber sie müssen ihren Sound finden, weil schon die Tendenz besteht, dass sie frisch von der Schule alle gleich klingen.“
Gemeinsam auf der Bühne
Eine Band ist ein Organismus – alles muss zusammenwirken für die gemeinsame Entwicklung des Klangs. Wie verhält es sich da zwischen Jung und Alt? Auf die Frage, was für die Musiker*innen an den Mitstreitenden auf der Bühne passen muss, kommen die Antworten prompt. Paul Bernewitz (www.paul-bernewitz.de) resümiert: „Zuerst dachte ich immer, es müssten die Besten sein. Aber das stimmt nicht. Die persönliche Komponente muss passen. Wenn du dich nicht richtig verstehst oder kennst, dann kommt es zu keinem gemeinsamen Fluss der Energien und diese Energie zwischen den Musiker*innen, die wir dann idealerweise in die Herzen des Publikums senden, die macht ein Konzert zu einem Ereignis harmonischer Übereinstimmung.“ Rebecca Trescher pflichtet dem bei: „Ja, es geht um die menschliche Komponente, um Empathie, Teamgeist, eine gewisse Portion Idealismus, Bock aufs Ganze zu gehen und natürlich den Sound. In meinem Fall suche ich da beispielsweise immer nach etwas erdig-weichem. Alter spielt für mich keine Rolle. Je heterogener, desto besser eigentlich“. Das findet auch Norbert Nagel, der sich immer vornimmt, mit möglichst verschiedenen Musiker*innen zu spielen: „Ich habe schon Crossover gelebt, als es noch keine Industrie war, bin in einer Big Band und in einem Philharmonischen Orchester gleichermaßen zu Hause, spiele mit Popmusikern und mit Free Jazzern. Mein Sohn hat mir immer geraten: Spiel nicht nur mit deiner Generation und eigentlich spiele ich auch viel lieber mit den Jungen, die sind offener und experimentierfreudiger. Aber dann findet man sich oft doch mit Seinesgleichen auf der Bühne vielleicht, weil man sich eben kennt, der Stallgeruch einem Sicherheit gibt und man nicht erst eine andere Sprache lernen muss. Aber eigentlich ist es langweilig. Wenn ich mir zum Beispiel die SWR-Big Band ansehe, da müssten dringend Junge geholt werden“. In der Thilo Wolf (www.thilo-wolf.de) Big Band klappt es mit dem natürlichen Zusammenspiel von Jung und Alt gut. Drei Generationen stehen hier gemeinsam auf der Bühne, was dem Bandleader wichtig ist: „Menschen verändern sich im Laufe der Zeit. Norbert ist zum Beispiel sehr junggeblieben. Wichtig ist, im Kopf frisch zu bleiben und sich auf Neues einzulassen. Die Jungen kommen technisch besser ausgebildet und können die Älteren anstacheln, die meist mit ihrem eigenen Sound und der Erfahrung punkten können. So kann auf beiden Seiten Motivation entstehen.“ Nach Solidarität unter Musiker*innen sehnen sich alle vier. „Es ist schon ein Haifischbecken und man ist froh über jede musikalische Freundschaft. Aber daran muss man auch wirklich arbeiten. Denn irgendwie bleibt man immer auch Konkurrent,“ konstatiert Norbert Nagel und Thilo Wolf stellt fest: „Der Kampf um Präsenz ist immer da. Und die Branche zielt eher auf Jüngere ab. Früher war ich in Shows schon mehr gefragt. Andererseits, muss man im Alter eben auch niemandem mehr was beweisen, aber immer veränderungsbereit bleiben…“ Das Leben auf der Bühne ist hart, verlangt jedem/jeder einzelne*n viel ab und der Gedanke, wie lange und wie weit es einen trägt, ist stets präsent.
Durchhalten bis zum bitteren Ende?
„Ich bin 26 und will spielen, so lange es geht. Als Jazz-Musiker muss man sich stetig weiterentwickeln. Wenn man Halt macht und anfängt, nur noch zu konservieren, sollte man aufhören,“ fasst Paul Bernewitz für sich zusammen. „Ich bin zwar in der Künstlersozialkasse, aber in Sachen Rente sieht es als freischaffende Musikerin düster aus. Ich muss also spielen, bis ich nicht mehr kann,“ sagt Rebecca Trescher schmunzelnd. „Nein, ich denke, wenn es mit der Klarinette nicht mehr geht, kommen sicher andere Ideen und Projekte. Ich sehe dem Altern eigentlich zuversichtlich und gelassen entgegen.“ Norbert Nagel stimmt kritischere Töne an: „Klar, vor 10, gar 20 Jahren habe ich über das Altern noch nicht groß nachgedacht. Aber man muss sich schon fragen, wie lange wollen einen die Leute hören und wie lange hält man es durch. Ich merke sehr wohl, dass ich seit gut 15 Jahren mehr üben muss, um den Status zu halten, nicht, um besser zu werden. Ich habe mit 48 komplett aufgehört zu trinken und zu rauchen – sonst: Keine Chance. Und gerade bei meinem Neujahrskonzert in Potsdam hat es mich schon beschäftigt, wie ich da als Dirigent auftrete. Gehen Mütze und Turnschuhe mit Anfang 60, weil das eben zu mir gehört? Oder denken die, der will verkrampft jung sein?“ Thilo Wolf hat diesbezüglich eine Verabredung mit seinen Kindern: „Wenn ich peinlich werde, müssen sie mir das sagen. Ich denke man muss beim Altern als Musiker auf der Bühne vor allem sich selbst treu bleiben, das Alter annehmen und akzeptieren, dass die Jungen es besser können. Sich nicht mehr in Konkurrenz setzen. Man hat Erfahrung und braucht vielleicht nicht mehr so viele Töne, um sich auszudrücken. Und das macht einen dann auch gelassener, cooler, man weiß, was man will und was nicht, akzeptiert, was man nicht kann und lässt sich nicht mehr verunsichern.“ Norbert Nagel zögert und sagt dann: „Ich habe mir manchmal schon gedacht, wenn ich gewusst hätte, wie anstrengend es ist, dann, wer weiß… ich habe große Wertschätzung für jeden, der heute Musiker wird und wünsche ihm Gesundheit und gutes Durchhaltevermögen in dieser schweren Zeit.“ Sein langjähriger Kollege und Freund, Thilo Wolf, ergänzt: „Und dass sie an sich glauben, das wünsche ich den Jungen! Sie sind viel besser ausgebildet, aber können sich immer nicht entscheiden, zögern bis zur letzten Minute, ob sich nicht noch was Besseres findet. Entwickelt Träume, brennt und bleibt dran.“
Zukunftsmusik
Ein frommer Wunsch, aber wie steht es um den Jazz heute und in Zukunft? Was müsste sich dringend verändern? „Ich würde mir schon mehr Dialog zwischen Jung und Alt wünschen. Wir haben ja beispielsweise das American Song Book als Raum der Verständigung, wir haben alle Mittel und können im Dialog bleiben, in dem wir uns an die Basis des Jazz erinnern, solidarisch untereinander sind und die Chance ergreifen Botschafter zu sein, die Menschen zu erfreuen, zu berühren und zu verändern,“ formuliert Paul Bernewitz und fügt hinzu: „Die Anerkennung von Jazz muss wachsen, denn die Bezahlung und das, was die Leute zu zahlen gewillt sind, ist oft ungenügend. Live-Musik muss als das Besondere begriffen werden. Aufnahmen sind nur das Abbild.“ Rebecca Trescher ergänzt: „Es braucht dringend bessere strukturelle Förderung – kein Hangeln von Antrag zu Antrag. Das ist mühsam und frustrierend.“ Dass das Publikum nachwachsen muss, ist allen klar. Norbert Nagel nimmt kein Blatt vor den Mund: „In den 80ern ist man irgendwo hingegangen, weil man Leute treffen wollte, nicht, weil die Band so angesagt war. Mit Musik war es dann noch schöner und hat das Beisammensein angeregt. Heute wird ganz spezifisch ausgewählt und herausgepickt. Das wünschte ich mir wieder lockerer.“ Es gilt also ein vielleicht verlorengegangenes oder verschüttetes Jazz-Gefühl wiederzuentdecken? Paul Bernewitz wüscht sich, „dass die Botschaft und Praxis des Jazz als praktizierte Lebensfreude in verschiedene gesellschaftliche Schichten einsickert und Jazz weder als museale noch als zu etablierte Kunst gesehen wird. Jazz hat keine Staubschicht und ist nicht nur was für „alte Leute“, sollte aber auch nicht von jungen Leuten aus dem studentischen Milieu zwanghaft intellektualisiert werden. Jazz soll frei sein und sich immer neu gestalten dürfen. Die Zukunft des Jazz könnte also großartig sein, sofern wir nicht im Gestern leben und immer daran denken, dass wir Menschen erreichen wollen.“ „Denn Jazz berührt in seiner Vielschichtigkeit jeden und ist einfach großartig,“ stimmt Rebecca Trescher euphorisch ein. Und nimmt man ihren Kollegen Thilo Wolf schließlich beim Wort, scheinen die Weichen für eine positive Zukunft des Jazz gestellt: „Ich finde gut, was da nachkommt. Die Szene öffnet sich. Man ist toleranter geworden und schaut mehr nach rechts und links. Und ich denke, jeder kann seinen Platz finden, wenn er authentisch bleibt und nicht irgendwelchen Trends hinterherjagt.“
[1] Erhebungen der Künstlersozialkasse, herangezogen in der Jazzstudie 2022