Geht es nun um die letzten Menschen oder die ersten – das fragt man sich am Ende eines überaus eindrucksvollen Opernabends in Frankfurt. Der Titel von Rudolf Stephans vor über 100 Jahren entstandener Oper „Die ersten Menschen“ ist eindeutig, und tatsächlich
geht es ja auch um sehr frühe Exemplare der Gattung homo sapiens: Adam und Eva, Kain und Abel. Auch wenn sie hier leicht verfremdete Namen tragen. Doch Rainer Sellmaiers Bühnenbild des zweiten Aufzugs lässt eher an ein wüstes Menschenende denken, so apokalyptisch wie es aussieht. Das wirkt sehr aktuell mit seinem an Butscha und andere Kriegsgräuel erinnernden Zerstörungsszenario. Musste die Vertreibung aus dem Paradies so enden?
Rudi Stephan (1887 - 1915) hat seine Oper kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs vollendet, doch bald nach Kriegsbeginn starb er an der Front. Welches musikalische Genie (dieser Superlativ muss sein!) da mit kaum 28 Jahren starb, kann man nach der Frankfurter Aufführung ermessen, und das völlig unabhängig von der Inszenierung Tobias Kratzers. Ähnlich wie Franz Schreker, der zeitgleich – und ebenfalls in Frankfurt – arbeitete, lotet er die Grenzen der Tonalität aus und realisiert eine symphonische Musik extremer Expressivität.
Der Plot beruht auf einem Drama Otto Borngräbers, das kurz nach seinem Erscheinen (1912) sofort verboten wurde, nicht zuletzt wohl aufgrund der nihilistischen Aussagen, die dem biblischen Kain (hier: Kajin) zur Gottesfrage in den Mund gelegt werden. Zu Beginn geht es um den Liebesverlust, den Chawa (Eva) beklagt. Sie erinnert sich sehnsüchtig daran, wie Adahm (Adam) sie einst begehrte. Nun ist er müde geworden und ausreichend beschäftigt mit dem Kampf um’s nackte Dasein. Kajin ist ihm in dieser Hinsicht keine Hilfe, denn der Sohn streift durch die Wildnis auf der Suche nach einer Frau.
Die Liebe ist also von vorneherein ein zentrales Thema, die verlorene ebenso wie die ersehnte. Chabel (Abel), der andere Bruder, vertraut auf einen gütigen Gottvater, bringt Opfer dar und ist gewissermaßen der Mustersohn des ersten Menschenpaares. Trotzdem wird er aus Kajins Sicht sündig, denn er lässt sich auf eine ekstatische Vereinung mit seiner von Adahm so enttäuschten Mutter Chawa ein. Das Ende ist so voraussehbar, wie es uns die Bibel erzählt: Kajin erschlägt Chabel und offenbart seine Vision der Zukunft. Ihr Kennzeichen: „kommendes Blut kommender Menschheit“.
Das ist ebenso dystopisch wie die beklemmend genau eine solche Vorstellung kommentierende Musik Stephans. Und doch gibt es am Ende eine Überraschung, wenn der Komponist die durchgehend düstere Klangsprache des zweiten Aktes quasi „loslässt“ und zu einer fast hymnisch klingenden Schlusswendung findet. Das korreliert insofern mit der Geschichte, als Chawa und Adahm angesichts des schrecklichen Endes ihrer Söhne wieder zueinander zu finden zu scheinen.
Tobias Kratzer hat sich für den ersten Akt eine spießige Familien-Scheinidylle mit Mittelschicht-Mobiliar ausgedacht, was sogleich den Blick lenkt auf seine Absicht, hier eine Familienkonstellation durchzudeklinieren. Wer glaubt, hier werde die Bibel nacherzählt, sieht sich auf Anhieb enttäuscht, und das nicht nur aufgrund der Inszenierung, sondern auch wegen des teils befremdlichen Librettotextes mit seinen expressionistischen Wortfindungen.
Der Inzest ist in diesem Werk, das den missglückten Zivilisationsprozess der Menschheit in einer Kernfamilie von vier Menschen schildert, von zentraler Bedeutung. Aber er ist eine überaus interne Angelegenheit, denn Beziehungen nach außen gibt es nicht, keine Einflüsse von Dritten in dieser nach außen isolierten Welt. Dass diese Szenerie eine Katastrophe hinter sich hat, deuten im zweiten Akt die Gasmasken an, mit denen die Brüder ausgerüstet sind.
Ambur Braid als Chawa irritiert im ersten Akt ein wenig durch ihre zu hochdramatisch eingestellte Stimme, doch das passt dann um so perfekter nach der Pause und wird vom Publikum begeisternd honoriert. Der Adahm von Andreas Bauer Kanabas ist stimmlich auf jeden Affekt und jede Szene geradezu ideal eingestellt, sein schönes Timbre ist eine willkommene Dreingabe. Kernig fallen die beiden Brüder aus, Iain McNeil als Kajin und Ian Koziara als Chabel. Das sind mächtige Stimmen, die mit dem aufwallenden Orchester mithalten können, darüber hinaus schauspielerisch eindrucksvoll ergänzend.