Wie hat es mit Europa angefangen, und wie hat es mit diesem bemerkenswerten Kontinent geendet? Dies erfährt das Publikum gleich eingangs in der Produktion, die sich das ETA-Hoffmann-Theater für die Eröffnung der Saison 2024/25 ausgesucht hat. Roland Schimmelpfennigs „Anthropolis“ (Untertitel: „Ungeheuer. Stadt. Theben“) hatte am Bamberger Theater Premiere, inszeniert von Sibylle Broll-Pape, der Hausherrin, die damit das letzte Jahr ihrer Intendanz einläutete. Im Zentrum steht die Iokaste-Episode, also der eigenartigerweise etwas unterbelichtete Aspekt der Ödipuserzählung. Aber alles muss natürlich mit Zeus beginnen, der als Stier verwandelt die Königstochter Europa entführte und damit den Gründungsmythos dieses Kontinents in die griechische Mythologie pflanzte.
Und wohin hat das geführt? Nein, Europa hat natürlich noch nicht geendet, aber die Zwischenbilanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ernüchternd. Europa ist auf der Bühne mittels Stacheldraht eingezäunt. Schon dieser erste Hinweis verdeutlicht, dass es in der Bamberger Adaption des fünfteiligen Stücks von Schimmelpfennig dezidiert um die Aktualität geht und nicht nur um Erinnerungen an die Tragödienerzählungen von vor zweieinhalbtausend Jahren. Aber Aktualität, das sind heute wie damals vor allem die Folgen von dem, was mit Recht unter „toxische Männlichkeit“ rubriziert wird. Die äußert sich vor allem in Gewalt und in der totalen Ablehnung von Kompromissen.
Iokaste, die Mutter und Frau des Ödipus, steht im Mittelpunkt dieser „Anthropolis“-Episode. Barbara Wurster verkörpert sie als weise Mahnerin, die sich allerdings der Fatalität ihrer Bemühungen bewusst zu sein scheint. Dabei geht es immerhin um den Bruderzwist ihrer beiden Söhne Polyneikes (Leon Tölle) und Eteokles (Daniel Seniuk), die sich im Kampf um die Herrschaft über Theben ineinander verkeilt haben. Wie aussichtslos Iokastes pazifistische Überzeugungsarbeit ist, deutet schon die Kostümierung der beiden bellizistischen Söhne an: Wer in der Hisbollah-Montur gewandet und mit Selbstmordgranaten ausgerüstet ist, neigt nicht zu Kompromissen oder gar zum Nachgeben.
Zwangsläufig verhallen Iokastes Forderungen nach Frieden und Verhandlungen. Ihr unermüdlich wiederholter Appell an die Konfliktparteien – „Kriege kann man nicht gewinnen“ oder „Es muss verhandelt werden“ – macht sie für alle wachen ZeitgenossInnen zu einer Art Sahra Wagenknecht der Antike. Angesichts der gezeigten oder angedeuteten Kriegsgräuel wähnt man sich im Donbass, im Gazastreifen oder später in Afghanistan. Quasi nebenbei wird auch für die Option eines Neuanfangs per Untergang plädiert. Dass all das auf der Folie der antiken Dramen von Euripides & Co. erzählt wird, gerät freilich zu keinem Zeitpunkt in Vergessenheit.
Insofern wird an diesem Abend auch eine gehörige Portion Nachhilfeunterricht in Sachen griechischer Mythologie geboten. Wem Namen wie Kadmos, Semele, Menoikeus, Ismene und Teiresias nichts sagen, sollte zwecks Verhinderung allzu großer Orientierungslosigkeit ein wenig vor- oder nacharbeiten. Die sattsam bekannten Personen wie Antigone und Kreon lassen wir in dieser Aufzählung mal aus … Letzterer (Stephan Ullrich) hält nach der Pause einen langen Monolog und beklagt Migrantenschicksale. Zuvor ist bereits die Sphinx in gespenstischer Gewandung aufgetaucht (Pit Prager). Sie wird auch den Epilog sprechen, garniert von Photos, die aus Gaza, Mariupol oder Südbeirut stammen könnten.
Szenisch wird ein recht unterhaltsames Potpourri geboten, das anfangs beim Thema Europa mit allerlei Episödchen aufwartet, mit Kapitalismus und Handel, mit einem Schulausflug in die Glyptothek oder, wenn es um die Zukunft geht, um Prophezeiungen oder Glaube und Aberglaube (was übrigens dasselbe ist). Viel Bestätigung von Gewissheiten ist darunter, auch manch banales, aber eine dystopische Grundstimmung herrscht bis zum fatalen Schluss, wenn sich Eteokles und Polyneikes gegenseitig umbringen und Iokaste als frustrierte Mahnerin stehen lassen. Das mit der toxischen Männlichkeit war schon immer so, könnte man gegenüber Roland Schimmelpfennig einwenden, wozu also dieser erinnernde Aufwand?
Die Antwort ist einfach: Das ETA-Hoffmann-Theater bietet einmal mehr sein vorzügliches Ensemble auf, das so facettenreich ist, weil aus sehr unterschiedlichen „Typen“ von Schauspielerinnen und Schauspielern bestehend. Von den jungen Frischlingen wie Antonia Bockelmann (Antigone) bis zu den Altmeistern wie Florian Walter spannt sich ein Bogen von Generationen, und das passt zu diesem Schauspiel. Ingmar Kurenbach steuert dazu eine Live-Musik bei, die von feinsten Gespinsten bis zu ohrenbetäubendem Lärm reicht. Schade nur, dass Iokaste kapitulieren musste. Sie hatte wohl nie eine Chance, und es ist zu befürchten, dass es auch in der düsteren Zukunft dabei bleibt. Viel Zustimmung für einen ungewöhnlichen Saisonauftakt!