Palermo, die Hauptstadt Siziliens, als exemplarische Süd-Nord-Achse zwischen normannisch-arabischer Kultur in die Welterbeliste der UNESCO eingetragen, mit einer kunstreichen Altstadt und landschaftlich in Berge und Meer gebettet, lockt mit sonnigem Gemüt zum berühmt berüchtigten italienischen Dolce Vita. Von zahlreichen Herrschaften geprägt, als Mafia-Hochburg lange Zeit angeschlagen, entwickelt sich eine der heute sichersten Städte Italiens schrittweise aus ihren eigenen Schatten heraus. Der kulturelle Umbruch gipfelte bereits 2018. Palermo lud als Europäische Kulturhauptstadt, entstaubte seine kulturellen Pfründe und gab sich als Gastgeber von Formaten (z.B. Manifesta, die europäische Biennale für zeitgenössische Kunst), die allzu lange nur Wunschdenken der sizilianischen Kulturszene waren. Doch das ist gut fünf Jahre her.
Wer heute die sizilianische Metropole bereist, findet sich zunächst in einer mehr oder weniger gepflegten Altstadt wieder, deren wichtigsten Gebäude seitens UNESCO unter Artenschutz gestellt sind. Und in der nur einige der stattlichen Anzahl an Palazzi und Bürgerhäusern mit Goldglitzer und Marmorstein stilecht saniert sind, welche nicht selten die ebenerdige Symbiose mit dem Handyladen oder Souvenirshop eingehen, um die ihre Flächen überhaupt zu beleben. Innenraum ist reichlich vorhanden und wenig genutzt. Wozu auch. Bei den Temperaturen auf der Insel spielt sich das Leben vorwiegend im Freien ab. Das gilt auch für die historischen Märkte, die die Palermitaner:innen und ihre Gäste zahlreich und leidenschaftlich frequentieren. An Esskultur mangelt es nicht. Seinem Ruf als Street-Food Highlight weltweit verteidigt Palermo tapfer, allerdings vorwiegend mit frittierter Kulinarik, die gerne Alles verwertet. Die Altstadt bleibt eine Herausforderung bezüglich Bewahrung und Entwicklung. Und baut auf standesgemäße Häuser wie dem Teatro Massimo, der drittgrößten Oper Europas, neben der Kathedrale und dem Normannenpalast als architektonische Meilensteine und Aushängeschilder der großzügig ausgedehnten „Fußgängerzone“. Und auf Kontrastkulisse gleichermaßen: Aktuell, noch bis 30. Juni, wird der Pallazo Reale von keinem geringeren als JAGO, Italiens jungen Star unter den Marmorbildhauern, bespielt. Mit seinem Werk „Look Down“, einem Embryo in Fötushaltung, mit dem er im opulenten Innenhof die Mitte des Palastes verzaubert und nicht nur den Kontext biegt, sondern dem gewichtigen Gebäude, mindestens auf Zeit, einen neuen Schwerpunkt verleiht. Einen Stadtteil weiter findet sich das Teatro Politeama, das für eine rekordverdächtig lange Phase der Opernhaussanierung zur Ausweichspielstätte geworden war und heute noch atmosphärischer Spielort für Konzerte und Ballett ist. Die namhaften Bibliotheken und Museen liegen beinahe alle zentral. Das Museo Archeologico Regionale „Antonio Salinas“, die Galleria Regionale della Sicilia, das Museo Diocesano, das Museo Ethnografico oder das Museo Geologico Gemmellaro. So wie die Galleria d`Arte Moderna, die, heute in den Klostergebäuden des ehemaligen Franziskaner-Konvents Sant`Anna untergebracht, auf 4700 qm zeitgenössische Skulpturen, Bilder und Installationen zeigt. Dazu Parkanlagen und sakrale Räume in Hülle und Fülle. Nicht zuletzt Palermos Universität mit seinen künstlerischen Disziplinen, die neben dem Möbelbau für Palermos Goldenes Zeitalter wichtige Faktoren bilden. In der Ausstellung „Palermo Liberty – The Golden Age“ im Palazzo Sant`Elia der Fondazione Sant`Elia wird, noch bis 30.05.2024, eindrucksvoll vermittelt wieso, weshalb, warum und womit Palermo und ganz Sizilien, zur Hochburg des Jugendstils avancierte und wie sehr dies das heutige Stadtbild noch prägt.
Wo allerdings passiert Palermos Off-Kultur, wo trifft sich die Kunst-Szene, wer kuratiert Zeitgenössisches. Als treibender Tourist allein spürt man nur wenig zeitgenössischen, schöpferischen Geist, findet schwerlich Zugang zu kreativen Milieus. Eine Hand voll Galerien sind zu finden. Ein Museum für zeitgenössische Kunst. JAGO nicht zu vergessen. Immerhin die Fondazione Merz und ihr ZAC machen auf sich aufmerksam. Nach zahlreichen Jahren kulturnomadischer Aktivitäten mit vielen Kooperationsprojekten auf Zeit in Palermo und Sizilien, schlägt das Zisa Zona Arti Comtemporanee in fußläufiger Entfernung zu Palermos Altstadtkern, im Stadtteil Zisa Wurzeln und manifestiert mit dem ZAC DAS Zentrum für gut sortierte, anspruchsvolle und teilweise radikale zeitgenössische Kunst und interdisziplinäres Kunstschaffen in Palermo. Am ZAC angekommen dann die Überraschung: Der neue Tempel der zeitgenössischen Kunst, untergebracht in riesigen Hallen, die einst für Möbelproduktion und Flugzeugbau industriell genutzt wurden, steht nicht isoliert im industriellen Part des Stadtteil Zisa. Vielmehr ist er eingebettet in ein 55.000 qm flächenstarkes Kulturareal mit knapp 40 unterschiedlichen Räumen zahlreicher kreativer Akteure – genannt Cantieri Culturali alla Zisa. Rund um die mächtige Halle versammeln sich das Goethe-Institut, das Institut Francais, das Haus der Kunst, getragen von einem Verein, der sich den künstlerischen Austausch Palermos mit der Partnerstadt Düsseldorf auf die Fahnen geschrieben hat, das Centro Internazionale Fotografia, das aktuell Fotografien aus der Sammlung Letizia Battaglia zeigt, die selbst als Fotografin und Fotojournalistin und vor allem für ihre herausragenden Aufnahmen über die Mafia bekannt ist. Weiterhin ist die Accademia Belle Arti dort ebenso ansässig geworden wie das Centro Sperimentale di Cinematografia, das Cinema De Seta, die Communià Ellenica sowie Ateliers, Werkstätten und Veranstaltungssäle innerhalb von vier Wänden (z.B. Spazio Marceau, Spazio Franco, Green Lab, Arci Tavola Tonda) und auch Open Air (z.B. Spazio Incolto).
Wie in einer Zitadelle der Kulturen bieten die Organisationen, die Ausstellungsräume, Schulungsräume, Theater-, Musik- und Filmaktivitäten sowie Gemeinschaftsinitiativen ein kulturelles Angebot an, das die Cantieri Culturali alla Zisa an jedem Tag im Jahr belebt.
Kreative, Künstler:innen und Kunstliebhaber:innen treffen sich in den gastronomischen Einrichtungen des riesigen Areals. Das „Cantieri Culturali alla Zisa“ wird verstanden als Kulturbaustelle und trägt lockere Einheit und kreativ-kollektiven Geist in das Areal. Die Aufbruchstimmung ist spürbar, wenn auch gediegen. Stilecht, will man meinen, für ein sizilianisches Kulturareal. Eine abgestimmte Programmatik ist nicht in Sicht, auch kein vereintes, durchschlagendes Marketing, aber Keimzelle um Keimzelle mit gegenseitiger Befruchtung durchaus. Vielleicht steckt die Seele Siziliens tief in diesem Areal, das sich bewegt, nur nicht zu schnell und bitte mit ausreichend Luft zum Leben: Dolce Vita gilt hier auch im Kulturareal. Zwanglosigkeit und Geduld scheinen immanent. Und immer mal wieder schließt sich der Kreis. Wo heute Kunst produziert und ausgestellt wird, standen einst die Ducrot-Werke, die den italienischen Jugendstil in Form von Möbeln über das ganz Land verbreiteten. Palermos prägnanter Architekt Ernesto Basil, unter anderem Inhaber des Lehrstuhls für Architektur, trug seine Handschrift bei.
Die Cantieri Culturali alla Zisa sind dank der dort kontinuierlich tätigen Kulturvereinigungen ein Bereich mit einer hohen Kreativitätsdichte geworden und entwickeln gemeinschaftlich ein innovatives Modell der Produktion von kulturellem Wert. So gelangen die kreativen Kräfte in das Experiment der urbanen wie gesellschaftlichen Erneuerung. Einer Industriebrache, einer Stadtteilmitte, einer Kulturachse im heute mit bevölkerungsreichstem Teil der Stadt am Rande der Altstadt, die gleichzeitig die historischen Stätten in Zisa Richtung historisches Zentrum bindet:
Dazu gehört der mittelalterliche Palast La Zisa, in dem sich heute das Museo d`Arte Islamica befindet und vor dem ein famoser Garten im arabischen Stil mit zahlreichen Springbrunnen lädt und die berühmte zwischen 1899 und 1902 errichtete Jugendstilvilla Villino Florio, die heute als Museum für Wohnkultur der Bellé Epoque fungiert und dem Jugendstil Siziliens einmal mehr seine verdiente Ehre erweist.
So schreibt sich der Stadtteil Zisa mit dunkler Zaubertinte auf die Kulturkarte Palermos und darf bei einem kulturaffinen Gang durch die Stadt künftig nicht mehr fehlen. Vorausgesetzt die Besucher:innen erhalten die Chance das Areal und den Stadtteil Zisa mit dieser Perspektive zu erkennen. Auf dass es genügt, wenn sich die Kultur mehr leise denn laut ins Areal schreibt und künftig selbstbewusst die Kehrseite der welterbeträchtigen Medaille der im Kern wunderschönen Kulturmetropole beschreibt.