2012. Zwei Dutzend Erfurter begründen mit dem Verein KulturQuartier Petersberg die Idee eines Kulturareals auf dem Petersberg Erfurt und stoßen mit ihrem Wunsch einer Quartiersentwicklung für die kreativen Milieus für Erfurt auf große Resonanz. Mit der Entscheidung des Stadtrats am 16.04.2014 allerdings, ging die Umnutzung des Areals bis heute durch verschiedene andere Eigner und Konzeptionen. Schließlich kaufte unlängst der Unternehmer Frank Sonnabend die Defensionskaserne auf dem Petersberg, die er bis 2024 zum Kreativquartier entwickeln will. Dass er das kann, hat er bereits im Norden Erfurts gezeigt. Die Offenheit zur Kultur- und Kreativwirtschaft wird ihm nachgesagt. Die zeitweisen Pläne für ein Landesmuseum dort scheinen damit vom Tisch. Eine Teilnutzung für museale Zwecke allerdings noch nicht.
Der Kulturquartiers-Verein hat sich unterdessen auf eine andere Immobilie eingeschossen: das Schauspielhaus. Der denkmalgeschützte Gebäudekomplex, 1897 als Stammhaus des Geselligkeitsvereins „Ressource“ eröffnet und später um einen Theateranbau ergänzt, war ab 1949 bis zum Bau des neuen Theaters im Brühl zentrale Heimstätte der Darstellenden Kunst in Erfurt. Das ehemalige Schauspielhaus wurde im Jahr 2003 zum ungenutzten Leerstand und verfiel in einen Jahre langen Dornröschenschlaf. Bis sich 2016 die Genossenschaft Kulturquartier Schauspielhaus gründet, die das Ziel der Schaffung eines KulturQuartiers wiederaufnimmt und der rein kommerziellen Aufbereitung adäquate soziale und kulturelle Zielsetzungen hinzufügt. Und ein enormes Potenzial an Ehrenamt. Der alte neue Verein, zusammen mit der Genossenschaft, werden schließlich zu den Zugpferden im Kampf um die Entwicklung des KulturQuartiers Schauspielhaus. Sie sehen aus ihren mehrjährigen Erfahrungen heraus die Möglichkeit, das Gebäudeensemble dauerhaft als kulturellen Ort zu etablieren. Die inzwischen über 800 GenossenschaftlerInnen zeigen sich als Erfurts Köpfe für Kultur, stemmen die Grundfinanzierung in Höhe von einer Million Euro und verleihen der Mission Schauspielhaus vielfältige, gut gelaunte Gesichter.
Das millionenschwere Projekt nimmt Fahrt auf. Knapp 5,5 Millionen sollen für Kauf und Sanierung insgesamt gestemmt werden. Die Pläne zeigen ein ehrgeizig und synergetisch genutztes Quartier inmitten der Stadt, das neben dem Großen Saal mit gut 360 Plätzen Ateliers, Studios, Foyer, Bar, Restaurant sowie Räume für Kino, Radio und das Tanztheater vorsieht. Als Ankermieter stehen der Kinoklub Erfurt, der Tanztheater Erfurt e.V. und das Radio F.R.E.I. im Fokus. Produktionsräume für KünstlerInnen, ein Artist in Residence Programm sowie die gastronomische Kernkomponente vervollständigen die Pläne für das kreative Areal zwischen Produktion und Konsumption.
Die Planungen wurden bereits früh von Aktion flankiert. Zahlreiche Veranstaltungsformate werden seitdem im dafür behelfsmäßig ertüchtigten Haus erprobt. Neben den obligatorischen Führungen durch das Objekt und dem facettenreichen Programm zum Erfurter Kultursommer, das teilweise einen Schwerpunkt auf Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche setzte, finden sich Installationen, Lichtkunstnächte mit Video-Mapping, Konzerte, Tanz, Lesungen und mehrere Festivals, die sich biegsam in die neuen räumlichen Möglichkeiten passen. Unter anderem die Architektur Filmtage Erfurt in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Erfurt. Salsa-Parties in den Sommernächten im Hof, die Jour de Fête in Zusammenarbeit mit dem institut francais, der Sommer in Rosé und die abwechslungsreiche Nutzung der Vorbühne setzen Standards. Zunächst noch unter dem Motto „Preview“ geboren, verstetigen und verfestigen sich Baustein um Baustein, zeichnen ein buntes Bild an soziokulturellen und künstlerischen Interventionen und tragen auch schnell beliebte Gewohnheiten in die Kulturareal-Grundrisse.
Das in 2021 gegründete Festival Phoenix 2.0 beispielsweise, ein Festival junger Perspektiven mit dem künstlerischen Fokus auf Schauspiel, Performances und Stückentwicklungen, hat sich dieses Jahr nahtlos fortgeschrieben. Ganz im Zeichen des Neubeginns, unter dem Motto „Rise Up From The Pandemic“, mit anhaltendem Ehrgeiz zum Aufbruch, zu optimistischen Blicken in Richtung Zukunft und mit einer klaren Absage an die krisengeplagten Pandemiejahre hinter uns. Und trifft den Kern des Gebäudes in Reminiszenz und Perspektive, stellt die Frage nach der Rolle und den Aufgaben des Theaters. In einem Umfeld, in dem Totgeglaubtes wieder ersteht. In dem stillgelegte Verbindungen neu entstehen. Unter anderem zum Theater Erfurt durch die Kooperation mit dessen STUDIO.BOX. Da setzt Phoenix an. Belebt mit nachhaltigen, langfristigen künstlerischen Initiativen Orte kollektiver Erinnerung und persönlicher Geschichte. Mit Vorträgen, Workshops und Workspaces, mit Netzwerkformaten ganz im Sinne der Mitmachgesellschaft, der selbstbestimmten und selbst bestimmenden Kollektivbildung auf Zeit, die sich digitale und analoge Räume zu eigen macht.
Ein Überseecontainer mit Bar sorgt für Leben auf dem zuvor still gewordenen Areal. Stadtraumboxen – die künstlerische Gestaltung der Schaukästen – setzen den soziokulturellen Raum in spe seit 2016 regelmäßig künstlerisch in Szene. Zuletzt mit der Ausstellung #19 mit Alexander Grüner.
Zwischenzeitlich gelingt der Kauf des Objektes durch die Genossenschaft KulturQuartier Schauspielhaus, die möglichst rasch mit dem Umbau beginnen will. Seit 11. April 2022 proklamiert die Genossenschaft für ihren Bau nach der bisherigen „Preview“ nun „Under Construction“ als Manifest und läutet damit eine neue Ära ein. In mehreren Bauabschnitten wird das Haus in den nächsten Monaten und Jahren saniert. Die Entkernung ist in vollem Gange. Je nach Bauphase werden weiterhin Teile des Hauses bespielbar sein und die erfolgreiche Belebung des Areals fortsetzen.
Das KulturQuartier Schauspiel in Erfurt ist damit ein kleines, aber paradefeines Beispiel für die Genese eines zeitgemäßen Kulturareals. Es nimmt die Vorzüge dritter Orte und die Schaffung kreativer Milieus für die Landeshauptstadt konsequent ins Visier und entwickelt schrittweise, experimentierfreudig und mutig, auch auf Basis von finanziellen Zwängen, aber in der Denkart weit darüber hinaus. Es intendiert Möglichkeitsräume für kreative Entfaltung, Magnetfunktion mit Anziehungskraft und verlässliche, bezahlbare Raumgebung für künstlerische Produktion und Konsumption. Es gibt Schritt für Schritt eine kulturaffine Seele in die alten Gemäuer und baut neue dazu. Seine Begründungsmuster der Standortpolitik, insbesondere mit Fokus auf den Zuzug junger Menschen, aber auch sein Bekenntnis als Ort mit Anreiz für eine Gesellschaft mit mobiler werdender Arbeitswelt und verändertem Freizeitverhalten, vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und gestiegener Partizipationsanforderungen der bürgerlichen, aktiven Gesellschaft ist schlüssig und wiegt schwer. Das Plädoyer kulturelle Angebote als Gestaltungsressource zu erkennen und zu ermöglichen, darf als angemessener Allgemeinplatz der aktuellen Kulturpolitik anerkannt werden. Die Beteiligung, die Genossenschaft und Verein in Erfurt aktiviert haben, ist Beispiel gebend und sollte politisch weiterhin fruchtbar, anerkennend und dankend in bedingungslose Unterstützung umschlagen. Damit der Kraftakt der anhaltenden Finanzierungsfragen auf möglichst solidem Boden bewerkstelligt werden kann. Und das bürgerschaftliche Wunderwerk auf seiner aktuellen Zielgerade nachhaltig aufgestellt und professionalisiert werden kann.
Hintergrundinformation:
Die Ankerinstitutionen sind
• Radio F.R.E.I. („Freier Rundfunk Erfurt International“), das erste Freie Radio Thüringens, das 1990 als Piratensender angefangen hat, 1999 durch die Thüringer Landesmedienanstalt zugelassen wurde und dessen gesamtes Radioprogramm ehrenamtlich erstellt wird.
• Kinoklub am Hirschlachufer, ein kleines Programmkino, in welchem man nicht nur besondere Filme jenseits des Mainstreams sehen kann, sondern die meisten Filme auch mehrmals im Originalton gezeigt werden. Eine kulturelle Perle dieser Stadt.
• Tanztheater Erfurt e.V., eine professionelle Plattform für Tanztheater, die 2007 ins Leben gerufen wurde. Hier werden eigene Stücke entwickelt und zur Aufführung gebracht, aber auch viele Tanzkurse für Laien angeboten.
www.kulturquartier-erfurt.de
KulturQuartier Schauspielhaus
Hopfengasse 3
99084 Erfurt