Am ersten Novemberwochenende morgens am Erfurter Hauptbahnhof angekommen. Pünktlich befreit sich die beschauliche Kulturmetropole von der Feuchtigkeit der Nacht und zeigt sich, bei strahlendem Sonnenschein, zunehmend von ihrer besten Seite. Der baulich eindrucksvolle Bahnhofsplatz ist sehr belebt. Die Menschen divers und umtriebig, aber gediegen. Zu Fuß vom Bahnhof Richtung Zentrum, vorbei an historischer, schmuckvoller Architektur und auffällig schönen Fassaden. Die Freisitze werden aufbereitet. Die Menschen genießen jeden Sonnenstrahl im öffentlichen Treiben der Altstadt. Die Straßen, bis auf wenige Verkehrsachsen, kaum bis nicht befahren. Die Stadt gehört den Fußgängern und Tram-Fahrern. So legt sich Erfurt den Besuchenden zu Füßen und versetzt seine Gäste blitzartig in Wohlfühlatmosphäre, vermittelt unmittelbar das Gefühl willkommen und mitten im Geschehen zu sein. Nach knapp zehn Minuten geht es direkt in die gut aufgestellte Tourist Information mit Ticketbüro, auf der Suche nach den richtigen Kulturinformationen für die Planung des Wochenendes in der Kulturstadt Erfurt. Konzertantes, Literaturtage, Thüringens Messe der Bildenden Kunst auf Erfurts Messegelände. Ein Markt für starke Ostmarken ist angekündigt, inmitten des egaparks. Bildende Kunst in öffentlichen Vitrinen, den so genannten Stadtraumboxen, am Kulturquartier Schauspielhaus. Bis zum 5. Januar ist dort die Installation „Sitzen lassen“ von Inken Reinert zu sehen.
Die Auswahl für den spontanen Kulturgenuss in Erfurt ist überraschend groß. Unweit des Tourist Service, am Fischmarkt, im Haus zum Roten Ochsen, direkt gegenüber dem architektonisch herausragenden Rathaus, lädt die Kunsthalle Erfurt prominent zu ausgewählten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Fotografien von Herlinde Koelbl waren bis 10. November zu sehen. Der Erfurter Kunstverein zeigte parallel künstlerische Positionen von Lena Kaapke unter dem Titel „spacial notations“. Auch Kaapke forscht. Ebenso filigran und durchdringend. Doch mit anderem Medium und mit dem Augenmerk auf die Natur. Eindrucksvoll beispielsweise ihre farblich nuancierte Differenzierung von ausgewählten Gewässern, aufgenommen zu unterschiedlichen Zeiten am jeweils selben Ort. Ab 1. Dezember sind dann Thüringer Kunstschaffende unter dem Titel „Next Generation #2“ zu sehen.
Im Umgriff der Kunsthalle schließen sich einige interessante Galerien an, die das Feld der Bildenden Kunst in Erfurt vielfältig bestellen. Mit dem Titel „Intense“ machte die Galerie Löser zuletzt auf sich und die Werke von Christiane Awe und Nicholas Bodde aufmerksam. Abstraktion, Form, Textur und Licht sind die von den Künstlern bespielten Themen. Noch bis 27. Januar ist die Werkschau mit Arbeiten des Künstlers miho in der Galerie niza in Zusammenarbeit mit dem Dorint Hotel am Dom zu sehen. In der städtischen Galerie am Waidspeicher bis 15. Dezember die Ausstellung „Uta Hünniger. Déjà-vu“. Die Graphikerin und Malerin Uta Hünniger (*1954, Weimar), gehörte zu den wichtigsten systemunabhängigen Akteurinnen im Untergrund-Kunstbetrieb Ost-Berlins während der DDR. Unter dem Pseudonym Viola Blum veranstaltete sie intermediale Happenings in ihrem Atelier, die bildende Kunst, Literatur und Musik miteinander verbinden sollten.
Mit der umfangreichen Messe „artthuer“, der 14. Kunstmesse Thüringen vom 8. bis 10. November, schließt sich der große Kreis an zeitgenössischen Kunstpräsentationen in Erfurt. Die zweijährige Produzentenmesse, die seit 1998 vom Verband Bildender Künstler Thüringen e.V. veranstaltet wird, zeigte über 150 Künstler:innen aus Thüringen mit ihrer jeweiligen Werkauswahl und lud zum Kennenlernen und Kauf gleichermaßen ein. Malerei, Skulptur, Grafik, Illustrationen, Schmuck und Objekte aus Keramik, Glas, Holz, Metall und Textil waren zu sehen. Das zeitgemäße Highlight war die Präsentation des Weimarer Künstlers Benedikt Braun mit seinem KI-affinen Mammutprojekt KI-nchen. Er generierte mehrere hundert Abbildungen, zaubert Kaninchen mit KI, um sie handwerklich nachzubauen. So öffnen sich in diesem umfangreichen Projekt sämtliche Fragen der künstlerischen Entwicklung und der veränderten Realität-Virtualität-Relationen, die die Gegenwart uns zunehmend zur Aufgabe macht. Brauns Kaninchen speisen sich aus Alice im Wunderland und Matrix gleichermaßen und ziehen sich als Leitmotiv durch die kuratorische Arbeit. So gesetzte Kunst leistet in avantgardistischer Manier ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Transformation, indem sie fiktive Erfahrungsräume als Erlebnis- und Reflexionsraum der Einübung öffnet. In diesem Sinne war Brauns Position im Reigen der Messe einzigartig.
Weniger einzigartig war die Messe für ostdeutsche Marken auf dem Gelände des egaparak. Genau genommen enttäuschend und mit allzu wenigen Ausnahmen. Der Park als solcher allerdings entschädigt für den Weg raus aus der Stadt. Den Besuchenden öffnet sich ein Garten- und Freizeitparadies mit Tropenhalle und riesigen Flächen zum Flanieren und Spielen. Bereits 1950 fand dort die große Gartenschau „Erfurt blüht“ statt. Entsprechend sind auch die architektonischen Schätze des Parks augenfällig. Auch das Deutsche Gartenbaumuseum befindet sich hier. Erfurts gartenbauliche Tradition währt folglich weit länger, als die Bundesgartenschau auf dem Areal Petersberg im Jahr 2021 uns gelehrt hat. Der wiederum ist ebenso weitläufig und gut geeignet für lange Aufenthalte und Spaziergänge im Freien.
Die Fläche, die Erfurt zu bieten hat, scheint schier unerschöpflich. Die Entwicklung des Petersbergs allerdings wird noch immer nur zögerlich und maximal im Rhythmus von Dekaden sichtbar. Trotz seiner unmittelbaren Nachbarschaft zum Platz der Plätze in Erfurt. Den groß dimensionierten Domplatz, der bereits für den Weihnachtsmarkt vorbereitet wird, der von 26. November bis 22. Dezember geöffnet sein wird. Direkt im Umfeld der eindrücklichen Kathedrale, die vor allem auch durch Erfurts kulturelles Vorzeigeprojekt Nummer Eins weite Kreise zieht, nämlich im Zuge der populären DomStufen-Festspiele. Jeden Sommer verwandelt das Theater Erfurt die 70 Stufen der historischen Kulisse aus Dom und Severikirche in eine opulente Opern- oder Musicalbühne und hat damit bisher hunderttausende Besucher:innen erreicht. Die Premiere von Puccinis Oper Bohème wird am 8. August 2025 stattfinden und die Theaterspielzeit 2024/2025 krönen, die in Erfurt in vollem Gange ist. Das Haus, eine der modernsten Spielstätten Europas, mit immerhin 800 Plätzen im Großen Haus, zeigt anspruchsvolles Musiktheater und bereichert mit Opern, Musicals und Konzerten den Status Erfurts als Kulturstadt. Und auch der Tanz ist in voller Vielfalt auf den Bühnen zu sehen. Das Opernhaus liegt nur einen Steinwurf vom einzigartigen architektonischen Wahrzeichen der Stadt – dem mittelalterlichen Ensemble aus Marien-Dom und Severikirche – entfernt. Seit 2018 entfaltet sich mit der STUDIO.BOX eine Modellbühne mit Spielraum zur Infragestellung des künftigen Theaterbetriebs.
Nicht unweit des Domplatzes befindet sich auch die Krämerbrücke, die längste durchgehend bebaute und bewohnte Brücke Europas und eines der bekanntesten Wahrzeichen der thüringischen Landeshauptstadt. Buntes Treiben, viele kleine regionale Lädchen und Galerien laden hier zum Bummeln und Verweilen ein. Bereits seit 1975 veranstaltet die Stadt jährlich am dritten Juni-Wochenende das Krämerbrückenfest. Über drei Tage zeigt Erfurt dann, was es zu bieten hat: Musik, Straßenkunst, Attraktionen, Handwerk, Speis und Trunk und natürlich ganz viel Kultur.
Die Stadtkarte für Neugierige, die in der Tourist Information gratis ausliegt, war ein impulsreicher Führer durch das Wochenende in Erfurt, für dessen Ausklang spontan die Entscheidung für Erfurts vermutlich charmantester Kleinkunst-Gastronomie „Franz Mehlhose“ getroffen wurde. Einem durchweg bezaubernden Ort, der Dora Morelenbaum in Duobesetzung zu Gast hatte. Die junge Brasilianerin performte die Kompositionen ihres kürzlich erschienenen ersten Albums „Pique“ und markierte damit eine neue Ära zwischen Bossa Nova und Musica Brasileira in bezauberndster Weise. Kongenial unterstützt von ihrem Gitarristen Guilherme Garcia Lirio, der innerhalb der Liveperformance einen unglaublich guten Job machte und auch für alle aufgenommenen Gitarren des Albums verantwortlich zeichnet. So wurde Erfurt bis zum letzten Event eine überaus positive Überraschung.
Diese „cozy“ Stadt, architektonisch, historisch, künstlerisch auf verschiedensten Ebenen am Puls der Zeit, mit einer Fülle an Angeboten und einer stattlichen Anzahl wunderbarer Spielstätten. Historisch bedeutungsvoll und nicht nur gut erhalten, sondern wahrlich fein gepflegt. Sie ist gerüstet für spontane Visiten und lange geplante kulturelle Highlights gleichermaßen. Und definitiv weit mehr als ein Wochenende wert. Denn zwei bis drei Tage sind bei weitem nicht genug, um angemessen in Erfurts Kulturtreiben einzutauchen. Vielmehr empfiehlt sich ein Besuch in unregelmäßigen oder gar regelmäßigen Abständen. Mindestens die große Ausstellung „Friedrich Nerly – Von Erfurt In Die Welt“, die noch bis zum 23. Februar im Angermuseum zu sehen sein wird, ist bereits als Pflichttermin notiert. Nerly ist nicht nur Gründungsgrund für das Städtische Museum, sein Status als früher deutscher Freilichtmaler ist längst entschlüsselt und reiht ihn gebührend in die Kunstgeschichte ein. Seine venezianischen Mondscheinbilder und ihr Bezug zur deutschen Romantik machen überaus neugierig. Der reiche Erfurter Nachlass ist nur Grundstein der Ausstellung, die mit zahlreichen Leihgaben thematisch diversifiziert sein wird und daher in ihrer Dimension sehr vielversprechend.
Am 22. November startet unter dem Motto „Bach Forward“ die Konzertreihe der Thüringer Bachwochen mit einem ausgezeichneten und ausgesprochen offenem Programm. Die Bachwochen selbst sind für 11. April bis 4. Mai datiert. Den nächsten Besuchen in Erfurt steht also nichts im Wege. Neben den Höhepunkten des Erfurter Kulturjahres bieten sich zahlreiche Impulse Erfurts Geschichte zu erleben und sich ihrer Erinnerungskultur zu widmen. Der egapark im Frühjahr und Sommer wird ein Muss sein. Und sobald in dem reichen Schatzkästchen der Erfurter Kleinkunst- und Livemusikbühnen weitere Diamanten ins Auge fallen, wird auch das ein Anlass sein, die Landeshauptstadt Thüringens in ihrer ausgesprochen kulturellen Ausprägung wieder und wieder zu besuchen. Auch das Barfüßer Open Air in der eindrucksvollen Kulisse der hochaufragenden Barfüsserruine, vom 20. Juni bis 13. Juli, wird ein Grund für einen weiteren Besuch sein.